Im Jahr 2014 begannen Anhänger des Islamischen Staates in großem Umfang Menschen, unbeteiligte Zivilisten, zu töten und darüber Filmchen zu drehen und in den Sozialen Medien zu veröffentlichen. Innerhalb der bei uns anerkannten Wertesysteme kann man das nicht als Geschmackssache abtun, es handelt sich vielmehr um Mord außerhalb jedes Rechtssystems, um feigen Mord, da die Personen, die da vor den Kameras enthauptet wurden, gefesselt und wehrlos waren, sicher in der aktuellen Angelegenheit keine persönliche Schuld auf sich geladen hatten und eindeutig weiterleben wollten, um ihr Leben flehten. In diesem Jahr 2014 okkupierte Russland im Zug einer ukrainischen Krise auch die Krim-Halbinsel, 2014 wurden auch die Päpste Johannes XXIII. und Johannes Paul II. in Rom heilig gesprochen. Ab Mitte des Jahres breitet sich das Ebolafieber in Westafrika zunehmend aus und nimmt epidemische Ausmaße an. Für Beiträge zur (hyperbolischen) Geometrie in Zusammenhang mit Modulräumen Riemannscher Flächen (Teichmüllerräume) und deren Dynamik erhält Maryam Mirzakhani eine Fields-Medaille. Die Traubeneiche wird Baum, der Grünspecht Vogel des Jahres.

Die große, weite Welt, wenn man das, was auf der Erde passiert, so bezeichnen möchte, ist müde geworden, sensationsmüde, begeisterungsmüde. Das Leben ereignet sich im Umfeld. Peter beginnt zunehmend nach seinem Leben, seiner Vergangenheit, seiner Zukunft zu suchen,

Bad Kreuzen liegt keine Fahrstunde von Peters Quartier im Theresienthal entfernt im Mühlviertel, über der Donau bei Grein.

Durch seine Entdeckungen war Peter rastlos geworden, hatte sich dies und jenes überlegt und wusste, dass er Klarheit haben wollte. Er recherchierte am kommenden Geschäftstag eifrig im Internet, nicht wissend, wonach er eigentlich forschte. Er stöberte unter »Pflegefamilie«, unter »Kinderheim«, unter »Kinder in Bad Kreuzen.« Er fand nichts, nichts unter allem, was er sonst noch so suchte. Man muss dazu aber auch ins Kalkül ziehen, dass das World Wide Web damals, im Jahr 2014, noch bei Weitem nicht so mit Informationen gefüllt war wie jetzt. Das Wachstum ist wahrscheinlich exponentiell. Derzeit (2024) schätzt man, dass auf etwa 1,8 Milliarden Websites 175 ZetaBytes (1021) an Informationen gehalten werden. Sicher nicht alle aktuell, sicher nicht alle nicht-redundant, sicher nicht alle sinnvoll, sicher nicht alle notwendig, sicher viele widersprüchlich.

Damals fand Peter im Internet nichts von dem, was er suchte. Er fand auch im Telefonbuch nichts. Er fand nichts, was ihm auch nur wie eine Spur von einer Spur erschienen wäre. Und so fuhr er kurz entschlossen - es war ein früher Herbsttag - nach seiner Arbeit nach Bad Kreuzen. Auf dem Weg geht es auf und ab, und in der Monotonie der Berufsverkehrsstraßen schweiften seine Gedanken umher: »Auf und ab, wie im Leben«, war ein Gedankenblitz. Und er suchte die Höhen und Tiefen in seinem bisherigen Leben. Zu den Hochs tauchten ein paar Bilder auf: Urlaube, eine Wasserskifahrt, seine Hochzeit, sein erster Sportwagen. Aber es waren nur Standbilder. Die Tiefs ließen sich leichter fassen: Sein Absturz, seine Zeit im Strafvollzug. Aus dieser jüngeren Zeit gab es nicht nur Bilder, da gab es auch noch wilde Gefühle. Nur wusste Peter da nicht mehr, ob diese Geschehnisse wirklich und durchweg Tiefpunkte gewesen waren, weil er war jetzt hier, und er fühlte sich gut, so wie er war.

Die Gedanken wanderten weiter: »Schuld und Sühne.« Ein Roman von Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Er hatte ihn nie gelesen. Zwei Filme hatte er gesehen mit diesem Namen, einen mit Vanessa Redgrave und John Hurt, der hatte ihm gefallen, und einen zweiten, eine französische Verfilmung mit Jean Gabin, lediglich inspiriert vom Roman, transponiert, und - wie er sich zu erinnern glaubte, in Südfrankreich angesiedelt, am Meer. Von da gingen seine Gedanken unvermeidlich weiter zu Querelle, dem windigen Matrosen von Jean Genet. Dieses Buch hatte er damals gefressen, gefesselt von der zwingenden Logik des apokalyptischen Mörders. Warum nur beschäftigten ihn diese Themen »Schuld« und »Sühne« so sehr? Oder waren sie doch nur eine einzige, zusammengehörende Angelegenheit: »Schuld und Sühne«? Was passiert im Fall von sühneloser Schuld?

Nach einer scharfen Straßenkurve endete ein Wald und der Blick auf im Streiflicht der bereits tief stehenden Sonne leuchtende Gebäude tat sich auf. Bad Kreuzen liegt an einem steilen Hang, in der Ortschaft sind etliche mühsame Höhenmeter zu überwinden. Es gibt eine Burg Kreuzen mit einem angebauten Hotel, mit einer Jugendherberge. Vielleicht dort eine Spur? Er fragte nach. Die junge Rezeptionistin der Jugendherberge wusste nichts über die Geschichte des Ortes, sie war nicht von hier.

Er trottete durch den Ort. Es war anstrengender, als er dachte, noch sehr heiß. Seine Streifzüge ergaben - wie erwartet - keine Anhaltspunkte, und so betrat er, gerade als die Sonne die dunkle Linie der Hügel im Westen berührte, das Gasthaus bei der Kirche. Über einige Steinstufen und eine Terrasse betrat er das alleinstehende Gebäude, vor dem er - voraussehend - bereits bei der Ankunft sein Auto geparkt hatte. Er nahm in einer Ecke der rustikal eingerichteten Gaststube Platz. Leider waren keine einheimischen Stammgäste da, wie er es sich erhofft hatte. Außer ihm saßen nur drei Männer an einem Fenstertisch und plauderten leise auf Polnisch oder Tschechisch, vielleicht auch Slowakisch oder Russisch. Peter konnte die slawischen Sprachen nicht auseinanderhalten. Wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen Lohnarbeitstrupp.

Er bestellte ein Abendessen, ein Getränk bei einer unerwartet fröhlichen Frau. Beim Servieren fragte er nach einem Kinderheim in der Geschichte des Ortes, nach einer Pflegefamile. Die - wie sich herausstellte - Kellnerin namens Andrea erklärte ihm, dass sie erst seit zwei Jahren hier sei, aus Pabneukirchen, aber dass sie sich kümmern werde. Kurz darauf kam sie mit dem Wirt zurück, der aussah, wie ein Kirchenwirt eben aussehen muss, mit gezwirbeltem Schnurrbart. »N´ Abend! Schmeckt das Essen?«, eröffnete der Gastwirt, um nach Gegengruß und einigen Höflichkeiten dann nachzufragen, ob der Besucher vielleicht auf den Skandal anspräche? Ja, so um 2010 herum sein herausgekommen, dass eine Pflegefamilie mit etlichen Pflegekindern diese gehalten habe wie Sklaven, sie schuften habe lassen für sich. Man wisse gar nicht, was noch alles passiert sei. Jedenfalls seinen die Pflegeeltern verschwunden, vielleicht ins Gefängnis, vielleicht geflüchtet, vielleicht auch nur weggezogen, man wisse es nicht, der Herr Pfarrer habe im Namen des Herrn Stillschweigen verfügt. Die Kinder seien auch alle weggenommen worden, von den Behörden wahrscheinlich. Auch das wisse man nicht, auf Geheiß des Herr Pfarrers.

Peter war enttäuscht, missmutig. Da setzte sich unerwartet die lustige Kellnerin an seinen Tisch und flirtete ansatzlos mit ihm, warum ein so netter und attraktiver Mann denn so traurig dreinschaue. Peter war irgendwie überrumpelt, versuchte nachzudenken, ob sie ihn denn trösten wolle, wie sie denn seine Stimmung erkannt haben könne, was sonst sie antreiben könnte. Aber er war in diesem Augenblick nicht im Stand, vernünftig zu antworten, und so krächzte und stotterte er seine Ja- und Nein-Antworten. Um die 40, 45 Jahre alt mochte Andrea - aha, ihren Namen hatte er sich gemerkt - sein. Keine Model-Figur, sondern ein wenig mehr, mit blonden, eher kurzen, gelockten Haaren, einem eher runden, lachenden Gesicht und großen blaugrünen Kulleraugen. Sie trug eine Art Dirndlkleid, das ihre Kurven betonte, und aus ihrem eloquenten Auftreten schloss er, dass sie fraglos und voll und ganz sie selbst wäre.

Als Peter am späten Abend nach Hause fuhr, dachte er mehr über Andrea nach als über die Suche nach seinem eventuellen Kind. Das war nicht gut, weil mittlerweile war es dunkel geworden, und er kollidierte fast mit einem Reh, das über die Straße huschen wollte. Unaufmerksam hatte er es erst im letzten Augenblick bemerkt. Was er gar nicht bemerkt hatte, war, dass die drei Männer in der Gaststube aufmerksam seinen Gesprächen zugehört hatten.

In den kommenden Tagen und Wochen fuhr Peter dann regelmäßig nach Bad Kreuzen, und er weitete seine Suchen aus. An den Abenden ging er regelmäßig beim Kirchenwirt essen, und er freute sich dabei auch immer ein wenig - er hätte es sich aber nie eingestanden -, Andrea zu begegnen und mit ihr zu flirten. Ein ihm neues Spiel. Es war so offensichtlich, so unmittelbar, so ohne Hintergedanken und so unschuldig. Es war anders als alle anderen Frauenbegegnungen, die er bisher gehabt hatte.

Der Herbst erblühte, und die Mischwälder des Donautales erstrahlten bunt. Eines Samstagnachmittags ging Peter von Bad Kreuzen aus in die Wolfsschlucht, eine wildromantische kleine Klamm mit vermoosten Granitbrocken, ein Tourismusmagnet. Dementsprechend waren auch viele Spaziergänger dort unterwegs. Als Peter die steile Klamm hinunterwanderte sah er einige Kehren weiter unten, gerade auf einem Holzsteg, Andrea gehen, mit ihr zwei Kinder, eher schon Teenager. Ein leichter Schreck durchfuhr ihn - so ganz ohne gesicherte Umgebung hätte er die Frau nicht treffen wollen -, und eine gewisse Enttäuschung wegen der Kinder. Andrea wahr wohl vergeben, die Flirterei nur Spielerei gewesen. Aber ausweichen wollte er auch nicht, und so ging er weiter zur nächsten Raststelle. Die Bank dort war frei. Er setzte sich. Er wartete.

Andrea schnaubte ein wenig wegen des vorhergehend steilen Aufstiegs, aber sie ging zielstrebig lächelnd auf ihn zu: »Hallo der Herr!«, grüßte sie schnippisch, wendete sich zu den Kindern um und stellte ihn vor: »Das ist der Herr Peter aus dem Theresienthal. Der besucht uns regelmäßig im Gasthaus.« Die Kinder grüßten artig und Peter wunderte sich über diesen braven Umgangston. Ein wenig altertümlich, wie in seiner Jugend, nicht so, wie er es heutzutage erwartet hätte. Ob sie sich setzen dürften? Und Andrea machte Anstalten, sich neben ihn zu setzen, vielleicht um dies den Kindern zu ersparen. Ihm ersparte sie aber nichts mit dieser körperlichen Nähe. Die Bank war hoch. Nur Peter konnte mit seinen Füßen bis zum Boden reichen. Er half Andrea beim Aufstieg. Dann wippte die Frau mit den Beinen, und die Kinder machten es ihr bald nach. Bei jedem Schaukler streifte der Oberarm, der Ellenbogen der Frau, nackt, warm, fest, duftend, Peters ebenfalls nackten Arm. Es fühlte sich gut an, ein wenig elektrisch, begierdenerweckend, wohlriechend. Sie plauderten Belangloses.

Nach einiger Zeit gingen sie gemeinsam weiter, nach oben, zur Burg. Er lud die Drei noch auf ein Getränk beim Kirchenwirt ein, der (für Peter peinlich) zu scherzen versuchte, was denn seine Kellnerin da für einen Fang gemacht hätte. Das Gespräch wogte im heißen Herbstnachmittag zunehmend wild fröhlich, hin und her, bis Andrea plötzlich meinte, Peter könne am nächsten Wochenende ja mit ihr auf das Greiner Stadtfest gehen. Sie borgte sich einen Kassablock, schrieb eine Adresse und eine Telefonnummer auf, und lachte Peter fröhlich mitten ins Gesicht. Dann verabschiedeten sie sich alle mit lustigen Artigkeiten voneinander und Peter fuhr beinahe fluchtartig nach Hause. Den Zettel steckte er ins Handschuhfach. Die Gedanken an Andrea streifte er kraftvoll ab. Bei den nächsten Suchaktionen wollte er wieder konzentriert und sachlich sein.

Nach einigen erfolglosen Nachfragen in Bauernweilern und Rotten rund um Bad Kreuzen führte eine Suchexpedition Peters nach Sankt Thomas am Blasenstein. Ja, dort konnte man sich an eine Melanie erinnern. Beim Kirchenwirt der Ortschaft, also genau dort, wo Peter gerade saß und ein Sodawasser mit Zitrone trank, hatte sie sauber gemacht. Auch in der Pfarre hatte sie ausgeholfen. Aber sie sei verstorben, sie liege auf dem hiesigen Friedhof. Die Lage des Grabes wurde ihm beschrieben. Ob sie ein Kind auch gehabt hätte? Das Gespräch vertrocknete.

Peter zahlte, ging zu Melanies Grab, dass da bescheiden aber gepflegt an der Friedhofsmauer lag, mit frisch gepflanzten Erikastauden. Er dachte, dass er beten sollte, aber er wusste nicht, wie Beten funktionieren sollte. Er suchte nach Bildern von Melanie, die aber nur in einem wilden Wirbel vorbeieilten, nicht greifbar, nicht fühlbar waren.

Als er nachdenklich heimfuhr, blieb er zum ersten Mal nicht in Bad Kreuzen stehen.