Peter war noch jung, gerade ein Vierteljahrhundert, und doch schon alt geworden, uralt und gebrechlich, so fühlte er sich.

Früher war Peter ein sehr zielorientierter Mensch gewesen. Er wusste immer schon genau, was er wollte: Luxus, Wohlbefinden, Kurzweil. Und dazu brauchte man Geld, also musste er rasch viel verdienen.

Seine zukünftigen Ziele vermeinte er sehr exakt zu kennen, der Weg dorthin hätte ihn am liebsten nicht interessiert. Peter hatte also nicht zu den Menschen gehört, für die gilt: »Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen...« Erzählen kann man nur, wenn man achtsam und gerne reist oder wenn einem etliche Missgeschicke passierten und Stolpersteine im Weg lagen. Zum Reisen erinnerte sich Peter an einen Kindheitsbesuch am alten Schwechater Flughafen, unbequeme Interrailreisen, bei denen er auf dem Eisenbahnzugböden hatte schlafen müssen, in seinen Teenagerjahren. Er ärgerte sich noch immer über stundenlange Wartezeiten auf Anschlussflüge und Megastaus im Urlauberverkehr. Peter hätte sein Leben wohl kaum als Reise bezeichnet und von einer Lebensreise wohl auch gar nichts erzählen wollen. Spontan wäre ihm auch gar nichts eingefallen, ein Bild hatte er allenfalls zur geplanten Endstation Luxusleben.

Einen Umstand gab es aber doch in seiner Erinnerung, den man mit Bewegung, mit Geschwindigkeit, mit Reisen in Verbindung bringen konnte: Den Crash, die Katastrophe, den wirtschaftlichen Zusammenbruch, den Beginn seiner Vernichtung als soziales Wesen. Im Frühjahr des Jahres 2002 erhielt Peter eine kurze Mitteilung von seinem Vorgesetzten, dass die Firma in Schwierigkeiten wäre und aufgelöst würde. Die Firma war ein Vertriebsunternehmen für Lebensversicherungsverträge, die nach einem Pyramidensystem aus lauter selbstständigen Mitarbeitern, auch einzelnen Mitarbeiterinnen, aufgebaut war. Peter arbeitete im Bereich Wien, er lebte auch in der Bundeshauptstadt, und pro abgeschlossenem Versicherungsvertrag erhielt er Prämien. Für jeden neu angeworbenen Mitarbeiter erhielt man eine Einmalprämie und Prämienzahlungen von eben diesem neuen Mitarbeiter. Man musste allerdings auch selber Prämien an seinen Werber - und eben Vorgesetzten - abliefern. Viel Geld hatte man lukrieren können in diesem System, auch wenn man selber viele Kosten hatte, durch Prämien, durch Steuer, durch Sozialversicherung, durch diverse Abgaben und Beiträge.

Vielleicht war dann der Markt gesättigt gewesen, vielleicht waren die Leute misstrauisch geworden. Man hatte mehrmals kritisch berichtet über Versicherungsprodukte, wie auch ihr Unternehmen sie angeboten hatte. Das Geschäft begann zu tröpfeln, die Kosten flossen weiterhin in breitem Strom. In der Hoffnung auf zukünftige Verdienste hatte sich Peter bereits zum Teil in ein Luxusleben begeben, Luxusgeliebte gehabt, letztendlich ein Luxuswesen geehelicht, das er in einem Luxuswagen herumchauffierte. Um all diesen Luxus zu finanzieren, hatte er, in Erwartung zukünftiger Gewinne, einigen Kredit aufgenommen. Nun musste er sich weiter verschulden, aber er trickste auch ein wenig mit den firmeninternen Abrechnungen und seiner Finanzbuchhaltung herum. Er dürfte nicht der Einzige gewesen sein, gegen seinen obersten Firmenboss wurde aus mehreren Strafrechts- und Finanzstrafrechtsgründen ermittelt. Im Zuge dessen wurde auch Peter einvernommen und anschließend verständigt, dass er als Beschuldigter geführt würde.

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Das gefiel dem Peter Hofegger gar nicht, es versetzte ihn tatsächlich in Panik. Er sah sich und war mittellos. So sahen es auch seine Gattin, seine Banken und seine Freunde, die sich infolgedessen eher rasch von ihm verabschiedeten. Auch seine Wohnung musste er aufgeben. Im Zug der Haushaltsauflösung versuchte er, um zumindest einige Barmittel zu haben, alles Mögliche zu verscherbeln; ihm verblieb deutlich weniger, als er erhofft hatte.

In Wien war er ein Gezeichneter, er hätte allenfalls Hilfsarbeiten annehmen können, wozu er sich zu stolz war. Irgendwie verschlug es ihn dann in die Bundesländer, Richtung Linz, weil doch dort der Gerichtsstand für die Ereignisse um die Firma war. Er trug eine unbestimmte Hoffnung in sich, dass er in Linz etwas finden könnte, dass dort jedenfalls der richtige Ort wäre, sein Leben neu aufzustellen.

Er kam auch nach Linz. Er fand ein billiges Zimmer in Linz. Er meldete sich an in Linz. Er fand eine Hilfsarbeit im Linzer Hafen. Stolz war er nimmer, der Herr Peter Hofegger. Aber er kämpfte noch um seinen Status. Es war aber nicht mehr sein Selbstbewusstsein, das ihm zuflüsterte, dass ihm ein solches Leben zustehe, es waren auch nicht physische Ansprüche oder Erfordernisse, die ihn dabei antrieben. Er hatte schlichtweg Angst vor dem Unbekannten, vor den Tiefen dieses neuen Lebens, auch wenn es hoffentlich nur ein vorübergehendes sein würde. Er ließ sich nicht ein auf seine aktuelle Gegenwart. Wenn er nicht durch Arbeit oder sonstige billige Kurzweil abgelenkt war, schlich er herum, schlich außerhalb der Gesellschaft, schlich außerhalb der Häuser.

Als er an einem Novemberabend 2002 durch so durch die Altstadt von Linz schlich, wurde es schnell und deutlich kälter. Es begann vereinzelte Flocken zu schneien. Sie blieben auf den Grasflächen, nicht auf dem Pflaster, nicht auf den Dächern, einige Augenblicke lang liegen, bevor sie hinweg schmolzen. Auf den Straßen, auf den Gehwegen zerfielen die Schneekristalle sofort bei ihrer Landung, bei der ersten Berührung, und waren doch so zart gewesen, dass sie die Asphaltflächen nur mit einzelnen Glitzertropfen anfeuchteten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging eine Frau, Peter fühlte sich an eine vergangene Zeit erinnert: Hohe klappernde Stöckelschuhe, man sah ihre Unterschenkel, dunkle Strümpfe, ein mit den Händen zugezogener Mantel, ein Hut, nein, eine Mütze ohne Krempe. Insgesamt sehr elegant, sehr aus der Zeit. Die Stöckelschuhe klapperten, und er konnte nicht umhin, mit den eigenen Schritten in den Rhythmus dieses Klapperns einzusteigen.

Mit der Zeit fühlte er eine seltsame Verbundenheit mit der Frau auf der anderen Straßenseite. Plötzlich blieb sie stehen, sah zu ihm herüber. Eine schöne, elegante Frau Mitte dreißig vielleicht. Ein Blick direkt in sein Herz, ein ganz seltsamer Blick, ein unerwarteter Blick, ein Blick, er war sich sicher, der ihm galt. Peter konnte nichts entgegensetzen, nichts zurückweisen, keine Hierarchie herstellen, nichts beenden und abschalten. Er wollte diesen Blick, er genoss es, gemeint zu sein, wie er sich nicht erinnern konnte, je gemeint gewesen zu sein. Er sehnte sich danach. Ein wilder Sturm brach in ihm los. Er machte der Frau ein hemmungsloses Kompliment: »Sie sind so schön! Es macht mich glücklich, sie anzusehen!« Und er schämte sich kein bisschen, er war froh, seine Wahrheit gegen alle Ängste ausgesprochen zu haben. War er verzaubert worden. »Darf ich zu Ihnen hinüberkommen?« Ohne die Antwort abzuwarten ging er zu ihr, und der Sturm legte sich, es wurde ruhig und sicher wie in einem geschützten Hafen. Gemeinsam gingen sie weiter, er suchte ihre Hand, zog sie in eine Nische und küsste sie lang und heftig und unter wilden Schauern. Es war der beste Kuss, der vertrauteste,, der vielversprechendste, der erwärmendste. Es war ihr Blick, ihr ganz besonderer Blick. Es war nur ein Formalismus, die Suche nach der Lösung eines technischen Problems, als er sie fragte, ob sie mit ihm käme.

Es war schön, lange Zeit mit ihr zu gehen. Die Flocken waren größer geworden, schluckten das Rauschen der Stadt, wärmten zumindest die Herzen. Sie sprachen nicht viel, aber Peter hatte das Gefühl, sie erzählten sich alles. Es war unerheblich, wie seine Wohnung aussah, sie war sauber. Sie schliefen miteinander, als ob es so bestimmt gewesen wäre. Sie schliefen miteinander, als ob sie füreinander gemacht worden wären. Alles war selbstverständlich und großartig. Es war unendlich zärtlich, es war unendlich grenzenlos. Er hatte das immer schon gekannt, er hatte es noch nie erlebt, es hatte ihm nie gefehlt, doch von nun an würde es ihm fehlen, wenn es nicht so wäre.

Er liebte alles an ihr und mit ihr: Ihr Lächeln, den Glanz ihrer Zähne, den Schimmer ihrer Augen, jede Pore, jede Haarwurzel, das Vibrieren ihrer Stimme und den Geruch ihrer Liebe. Sie blieb über die ganze Nacht bis in das Abklingen des Morgenverkehrs. Sie sagte ihm ihren Namen, versprach ihm, ihn wieder zu treffen.

Peter sah die Welt auf eine neue Art.

Sie trafen sich häufig, es waren konspirative Treffen Sie unternahmen nicht viel, außer sich zu lieben, sich in den Armen zu liegen, miteinander zu träumen und zu schwingen. Zumindest schienen beide es so zu empfinden, so zu wollen.

Und dann war Melanie plötzlich weg.

Wenige Tage hatte Peter seinen Prozess. Er verzichtete auf einen persönlich gewählten Verteidiger. Seit Melanies Verschwinden schien er sich nur mehr selbst zuzusehen, von weit außen, ohne große Gefühle. Wegen schwerem Betrug und einigen Begleitdelikten auf der einen Seite, seiner Geständigkeit und bisherigen Unbescholtenheit andererseits wurde er teilbedingt zu einem Jahr, davon sechs Monaten unbedingter Haft verurteilt. Er ersuchte um sofortigen Haftantritt, versuchte nochmals, Melanie aufzuspüren, aber er wusste ja nichts über sie.

Seine Strafe verbüßte er in der Justizanstalt Garsten. Da war nichts, was er positiv sehen hätte können. Und als er entlassen wurde, hatte er lediglich ein wenig Hilfe und Kontrolle durch eine Sozialarbeitsstelle. In Linz fand er kein Unterkommen mehr und keine Spur von Melanie. Weiter östlich, zum Theresienthal hin, wurde er in einem landwirtschaftlichen Betrieb billig untergebracht. Das eine oder andere hatte er dort zu leisten: diverse Einkäufe, Reparaturen, Hilfsdienste. Sonst sollte er sich eine Arbeit suchen. Ein altes Auto, das er wieder zum Laufen gebracht hatte, durfte er sich ausborgen.

Er fand auch einen Job, eine Beschäftigung als Matratzenverkäufer in einem Gewerbegebiet. Er war dort allein im Geschäft. Im Gespräch mit seiner Chefin vermeinte er, dass dies bedeute, dass er der einzige Angestellte im Geschäft sein würde. Das war ihm gar nicht unrecht. Dann stellte sich heraus, dass er auch keine Kundschaft hatte, keine Lieferanten, weil ja doch keine Ware abging. Das war ihm anfangs auch nicht unrecht. Im Lauf der Zeit wurde ihm aber dieses Matratzengeschäft unheimlicher und unheimlicher, und er begann es nach allerlei selbstaufgestellten Algorithmen zu durchstreifen und auch pingelig zu erkunden.

Abends fuhr er zurück zu seinem Hof, oft mit dem Auto, in den warmen Jahreszeiten sogar mit einem Fahrrad. Er liebte das Radfahren, die körperliche Verausgabung, sich zu spüren. Auch mit den öffentlichen Bussen fuhr er im Lauf der folgenden Jahre einige Male, wenn der Personenkraftwagen kaputt oder nicht verfügbar war, bei schlechtem Wetter.

In Gesellschaft ging er nicht, weil er sich doch gezeichnet fühlte. Aber regelmäßig fuhr er nach Linz, streifte durch die Straßen, schaute durch Türen und Fenster in Lokale und Kaffeehäuser. Melanie fand er nicht. »Nimmermehr!« Ließ er schaurig, verzweifelt, brennend, vertrocknet, erstickt in sich klingen.