Melanie war müde geworden, sehr, sehr müde. Es kostete sie große Überwindung, Erledigungen in Angriff zu nehmen, ob diese nun mit geistigen oder körperlichen Anstrengungen verbunden waren. Und schwach war sie geworden, kurzatmig. Wenn sie sich eine Treppe hinaufgezogen hatte am Geländer, dann pochte ihr Herz, sie keuchte. Sie wollte ausrasten, sie musste ausrasten von ihrem bisherigen Leben. So genau konnte sie sich da ja nicht mehr erinnern. Die Kindheit am Bauernhof? Aus ihrer Erinnerung, ihrem jetzigen Zugang gestohlen, geraubt, zerstört. Aber sie hatte ja Kraft gehabt, sie hatte sich ein Leben organisiert, ein außergewöhnliches Leben. Auch nur mehr Blitzlichter. War es ein wertvolles Leben gewesen? Ein gutes Leben? Peter war ein beständigeres Bild, aber auch den konnte sie nicht nachverfolgen, keine zusammenhängende, keine sinnvolle Rückschau halten. Peter war gut zu ihr gewesen. Sie musste lächeln.

Und jetzt kam Pavel: Was hatte Pavel eigentlich von ihr gewollt. Ein Zirkus fiel ihr ein, eine Manege mit Gitterkäfig, ein Raubtierbändiger. Sie war keine Löwin, keine Tigerin, nie gewesen. Pavel hatte auf sie eingeprügelt, geprügelt, geprügelt, geprügelt. Er hatte sie auch vergewaltigt. Der Schmerz hatte aufgehört, als sie zu Boden gesackt war. Nur mehr die Energie der Schläge, der Tritte. Irgendwie hatte sie später alles gepackt, ihr Leben in Linz abgebrochen.

Mit der Westbahn wollte sie nach Wien fahren. Im Takt der Räder auf den Geleisen kam ihr aber rasch eine Idee, eigentlich war es eine Erinnerung: Der Tunnel, die Kammer bei Amstetten. Dorthin fuhr sie tatsächlich wieder, eine erwachsene Frau jetzt, doch noch immer schlank und beweglich genug, sich in ihrem Bau einzunisten. Dort lebte sie einige schöne Zeit, denn sie musste nichts erledigen außer ihrem täglichen Lebensunterhalt. Pavel würde sie suchen, das wusste sie, und Peter auch, das hoffte sie. Doch hier würde sie niemand finden.

Nach einigen Wochen war sie sicher, schwanger zu sein. Das Leben wurde kompliziert. Von wem war sie schwanger? Sie würde das Kind austragen. Und als sie da begann, ihre Pläne zu schmieden, sich vorzubereiten, anfangs eher unbestimmt, da wurde ihr Leben erstmals anstrengend und mühsam, schwach und kurzatmig. Das musste eine Begleiterscheinung der Schwangerschaft sein. Als sie darüber nachdachte, als ihr einfiel, dass sie ihr Kind gesund austragen wollte, da begann ihr Herz zu klopfen: Bumm - Bumbumm- Bumm - nichts - Bumbumm.w®Ôäòùÿ

Aus der Sicht der Medizin hatte Melanie Vorhofflimmern, das letztendlich zu Herzrhythmusstörungen geführt hatte. Auslöser waren ein angeborener Herzklappenfehler im linken Herzen, das durch die Lunge pumpt. Dadurch floss immer ein wenig Blut zurück, durch die undichte Klappe, und das Herz musste sich mehr anstrengen, was über die Jahre zu einer vergrößerten linken Herzhälfte geführt hatte. Dazu kam noch ihr eher wildes Leben. Alkohol und Medikamentenmissbrauch hatten da schon eifrig mitgewirkt. Aber vielleicht war es ja auch so, dass ihr jetziges, gesundes Leben, die Umstellung, ihr Herz so aus dem Tritt brachte. Für ihr Kind wollte sie gesund sein, ein gesundes Kind wollte sie in die Welt setzen. Das war ein wichtiges Ziel für sie, wenn sie sich zu erinnern versuchte, ihr erstes, wichtigstes, einziges Ziel.

Da war auch noch Pavel, wegen dem sie sich Sorgen machte. Pavel würde sie suchen, würde seine Suchhunde ausschicken, die natürlich zuerst einmal alle ihre bisherigen Aufenthaltsorte untersuchen würden. Die junge Frau würde also die nächsten Wochen einmal in ihrer Höhle bleiben. Sie führte dort ein ruhiges, gesundes Leben, das in einen guten Tritt kam: Bumm-Bumm-Bumm-Bumm-Bumm ...

Im vierten Monat der Schwangerschaft wurde ihr bewusst, dass ein wenig medizinische Betreuung ihnen beiden, dem Kind, mit dem sie sich zu unterhalten begonnen hatte, und ihr selbst, guttun würde. Nach kurzem Nachdenken packte sie am nächsten Morgen ihre Sachen, kletterte aus dem Tunnel und für per Anhalter nach Sankt Thomas am Blasenstein. Dort wanderte sie noch einige Minuten zu dem alten Bauernhof, in dem sie groß geworden war. Dass dort niemand mehr aus ihrer Familie leben würde, das hatte sie ja vermutet. Dass der alte Bauernhof verlassen, verfallend, zum Teil von wildem Wein, der in der Nachmittagssonne leuchtete, überwuchert dalag, freute sie. Sie stapfte über die ungemähte Wiese voller Blumen, am Waldrand, niemand musste ihre Spuren sehen, und verschaffte sich Zutritt ins Haus. Die Tür war versperrt, das Holz war ausgewaschen und wurmzerfressen. Hier würde sie wohnen.

Natürlich fiel sie auf ihren Einkaufs- und Besorgungstouren auf und wurde auch angesprochen, zuerst vom Nachbarbauern, ob die denn nicht die kleine Melanie von damals wäre, ob er denn nicht Grund pachten könne, ob sie denn nicht ein wenig mithelfen möge auf seinem Bauernhof. Es war alles ganz leicht. Niemand fragte, Melanie bekam ihren Tageslohn auf die Hand, Melanie wurde im ganzen Ort gegrüßt. Irgendwann fragte sie auch der Wirt des Dorfes, ob sie nicht aushelfen möchte. Das tat sie. Und weil das Wirtshaus unter der Kirche liegt und natürlich auch den Pfarrer bekochte, musste sie das Essen zum Pfarrhof hochtragen. Auch der Pfarrer fragte sie um ihre Hilfe. Sie half auch im Pfarrhof.

Mit feinem Gespür, unangenehm an ihr vorheriges Leben erinnert, bemerkte Melanie, dass der Herr Pfarrer sie vom ersten Augenblick an seltsam ansah. Aber er stand sich mit seinen barock-paradoxen Ansprachen dann immer selbst im Wege. Wenn etwas passieren hätte sollen, dann hätte schon Melanie die Initiative ergreifen müssen. Aber das wollte sie nicht. Sie wusste genau, dass sie den Herrn Pfarrer am Gängelband hätte führen können. Aber das wollte sie nicht. Und so blieb alles, wie es war, bis im Frühjahr 2003 der kleine Pauli geboren. Paul hieß Paul, weil Melanie den Namen mochte. »Peter und Paul«, »Pavel heißt Paul«, das wäre ihr nicht aufgefallen, und es war auch niemand da, der sie darauf aufmerksam gemacht hätte.

Ein lediges Kind bei einer jungen Frau, die im Pfarrhof arbeitet, das darf am Land nicht sein. Der kleine Pauli wurde deswegen bald, knapp zwei Jahre alt, zu einer Pflegemutter in Bad Kreuzen gegeben, und man muss schon sagen, dass alle mitgeholfen haben, die Angelegenheit ordentlich über die Runden zu bringen. Melanie hätte nur vergessen, sich anzumelden, bei der Sozialversicherung umzumelden, und so weiter. Es fällt einem ja üblicherweise gar nicht auf, aber es gibt schon ganz schön viele Stellen, die genau Bescheid wissen möchten. Damit hatte der kleine Pauli schon sein erstes Geschenk: Er war eine österreichische Person.

Die Jahre gingen dahin, ohne dass sich viel änderte. Melanie war ganz ruhig und bescheiden geworden, sie hatte auch nimmer viel Kraft. Demütig war sie geworden, aber es war nicht eine Demut vor der Großartigkeit der Welt, inklusive der eigenen Existenz, sondern es war eine unterwürfige, eine verzweifelnde Demut: »Bitte Gott, wenn es dich gibt, bitte alle höheren Mächte, bitte alle Geister der Steine, der Erde, des Himmels, bitte macht, dass es gut ausgeht hier!«

Eines Tages hatte sie die Gaststube aufgewaschen, es war ein Samstag, es war um 22 Uhr. Sie setzte sich auf eine Bank im Gastgarten, zündete sich eine Zigarette an. Ihr Herz würde ihr doch keinen Streich spielen jetzt, gerade jetzt, gerade jetzt, wo alles in einen langen, ruhigen Fluss zu münden versprach. Doch ihr Herz schlug unregelmäßig und wild, und dann plötzlich nicht mehr.

Sie kippte zur Seite. Die Zigarette machte noch einen kleinen Brandfleck in die Bank, in ihre Schürze, aber die heutigen Zigaretten sind so gemacht, dass sie bei Nichtgebrauch rasch ausgehen, aus Sicherheitsgründen. Melanie wurde schwindlig, schwarz vor Augen. Einen Lebensfilm, wie so oft erzählt wird, sah sie nicht. Sie erinnerte sich nur an ein Bild, einen Kasperlkopf aus Marzipan und einer Eistüte. Und dann suchte ihr schwindendes Bewusstsein noch herum, so gut es eben noch konnte, und formulierte eine Erinnerung, einen Wunsch, eine Hoffnung, das Wichtigste in ihrem Leben: »Pauli...«

Das wars!

Gerade einmal 43 Jahre und 94 Tage war Melanie alt geworden. Ein junger Tod, aber ohne viele Ängste, Verzweiflung und Schmerz, wenn man einmal von den Todesängsten, vom Schwindel, der Schwäche, der Übelkeit bei Herzpochen, -drücken und -aussetzern absieht. Auch den Menschen, die unmittelbar um sie waren, hatte ihr nicht viele Ängste, Verzweiflung oder Schmerzen bereitet. Ein wenig wehmütig waren alle geworden, einige Augenblicke lang demütig und bescheiden. und ob der Pfarrer vielleicht ein wenig mit seinem Gott haderte, der ihm seine Sehnsucht weggenommen hatte, wird nie bekannt werden.

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Der Kirchenwirt zahlte ein billiges Begräbnis, die Kirchengemeinde spendete dazu, der Pfarrer las eine Totenmesse aus einer etwas verschämten Verbundenheit. Er hatte seinen Ingrimm über die letzten Tage und Nachtwachen verdaut und war sogar imstande, bei der Totenmesse freundlich und ohne Scham über Melanies Leben, soweit er es kannte, zu sprechen. Viel hatte er da ja nicht zu erzählen, paradoxerweise über Melanies gutes Herz, obwohl gerade das nicht so gesund gewesen war.

Zu diesem Begräbnis kamen unerwartet um die 50 Leute, und obwohl es keine Zehrung auf Kosten der Verstorbenen oder ihrer Nachkommenschaft, die es bei Melanie in diesem Sinn ja nicht gab, saßen die Leute doch noch einige Zeit beim Kirchenwirt und wahren mehr gerührt als bei manch anderer Bestattung. Dem kleinen Pauli, der gerade in sein siebentes Lebensjahr ging und in die Schule geschickt worden war, wollte man nichts näher erklären, erzählte ihm aber doch, dass eine ganz besondere Frau, fast eine Heilige, gestorben war.

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Es gibt Weltgegenden, in denen ihrem Taxifahrer sein Karma wichtiger ist als die Funktionsfähigkeit seiner Bremsen. Es gibt Gesellschaften, in denen eine (geregelte) Ehre wichtiger ist als ein reines Gewissen oder Menschlichkeit. Es gibt Menschen, denen ein prunkvolles Leichenbegängnis wichtiger ist als ein - vielleicht dazugehöriges - erbärmliches Leben.

Egal, was wir waren: Erinnerung ist nur eine Reifenspur im Sand (sang schon Reinhard Fendrich).

Wichtig ist allenfalls, wer wir sind, solange wir sind, für andere.