Grein ist eine Stadt im oberösterreichischen Mühlviertel, dort, wo die Gegend am Südufer der Donau schon Niederösterreich heißt. Stromabwärts des historischen Städtchens bis nach Ybbs und Persenbeug liegt der Strudengau, in dem seinerzeit die Donau unreguliert in wilden Strudel dahinschoss. Dementsprechend brauchten die mittelalterlich flussaufwärts - »gegenwärts« - fahrenden Donauschiffe bei passieren des engen, gewundenen Talabschnittes verstärkten Pferdevorspann zum Treideln bis in die stromaufwärtig erste ruhige Donaubucht bei Grein, was zum frühen Gedeihen dieser Gemeinde beigetragen haben wird. Auch eine Burg wurde dort errichtet.

Obwohl durch Österreichs erstes Donaukraftwerk Ybbs-Persenbeug der Strudengau 1959 schifffahrtstechnisch entschärft wurde, ist Grein weiterhin - jetzt aber touristisch - ein Anziehungspunkt, Tor in ein wundersames Hinterland, durch magische Schluchten und Klammen steil ansteigend zum Mühl- und Waldviertel hin. Und die, die der Donau entlang kommen, stoppen dort, meist »auf ein Eis.«

Zum Donauufer hin gibt es Kaffeehäuser, auch mit Terrassen, von denen man die breite Donau, die Schiffsanlegestellen, den Schiffsverkehr beobachten kann. Als Kellnerin sehen sie dieses Panorama jeden Tag, bei strahlendem Sonnenschein, bei bedecktem Himmel, bei Nieselregen. Nur bei Wolkenbrüchen und im Winter werden die Terrassen nicht benutzt, der Betrieb erfolgt nur in der Gaststube, von der aus der Ausblick doch ziemlich eingeschränkt ist. Als Servierkraft sehen sie aber noch viel mehr die Gäste, einerseits natürlich als zu bedienende und zahlende Kundschaften, andererseits ein klein wenig auch als Menschen mit ihrem Lachen, ihrer Verschlossenheit, ihrem Zorn, ihrer Trauer vielleicht sogar.

Anfang Mai 1980 hatte es an warmen Nachmittagen doch 20 Grad Celsius. Das Wetter war stabil und angenehm, nur Einzelwolken zogen über den Himmel und beruhigten, dass es schön bleiben werde. Aber vielen Menschen schien es doch noch ein wenig zu kühl zu sein: Zwar war das Gastzimmer des Kaffees voll, doch auf die Terrasse wagten sich nur wenige Leute. Darunter ein einsamer Motorradfahrer, einer von der Sorte, die auf wild machen. Der setzte sich ganz nach vorn, an das Geländer, wo auch der leiseste Windhauch zu spüren ist, und begann, sich einhändig eine Zigarette zu drehen. Nach einigen Minuten kam ein Mädchen, noch keine 15 Jahre alt, machte einen koketten Knicks, sagte irgendwas, was die Serviererin nicht verstehen konnte, und setzte sich zum Motorradfahrer, aber nicht gegenüber an den Tisch, sondern an die Schmalseite, mit dem Rücken zum Lokal, und begann sofort, sich zum Motorradfahrer hin zu lehnen und zu tuscheln. Tatsächlich handelte es sich um die dreizehnjährige Melanie, die auch tatsächlich versuchte, den Rocker anzumachen, damit er sie mitnähme, hinausführte in die weite Welt. Wenn jemand schon so wild aussah, dann würden doch gesellschaftliche Zwänge für diesen jemanden keine Rolle spielen. Wenn jemand schon so wild aussah, dann würde er mit seiner Kraft doch wohl alle Hindernisse hinwegfegen können.

Im Jahr 1980 wurde aber daraus nichts. Gar nichts passierte, außer dass der »Höllenengel« aufstand, wegging und an der Theke zahlte. Auch Melanie trollte sich. Sie hatte nichts konsumiert, aber man hatte sie gesehen, ihr Verhalten gesehen.

Die Kellnerin, selbst zwischen jung und nalt, wurde von einer grollenden Eifersucht erfasst, eigentlich einem wilden Neid, wie denn dieses junge Mädchen sich Freiheiten nehmen konnte, an die sie selber ihr ganzes Leben lang nicht einmal konkret zu denken gewagt hatte. In den nächsten Tagen erzählte sie ungefragt jedermann und auch -frau von ihren großen Sorgen um das Mädchen und ihrer moralischen Entrüstung über den Rocker.

Das Mädchen bemerkte zwar, dass man über sie zischelte, sie kannte aber die Inhalte nicht. Sie forschte auch nicht nach, es konnte nicht so wichtig sein. Sicher war: Irgendwo da draußen, zur untergehenden Sonne hin, da musste das Paradies sein. Ohne Kummer uns Gram, voller und Lust. Sie würde dorthin kommen. Es war für sie gemacht. Man wartete dort auf sie.

Um ihre Paradiesfahrt in die Gänge zu bringen, flirtete Melanie weiter eifrig mit Buben und Männern, das heißt, sie versuchte zu flirten, das zu machen, was sie für reizvoll und anziehend hielt. Sie ging auch mit ihnen ins Bett, aber das hatte - aus ihrer Sicht - nichts sonderlich Geiles an sich. Nackt zu sein, berührt zu werden, das kannte sie schon von Kindheit an. Und wenn es sich jetzt auch so anfühlt, als würden hier Stereotype bedient: Sie fand Sex nicht sonderlich erregend, weil die jungen Burschen, die mit ihr schliefen, die waren immer schnell fertig, kümmerten sich nicht sonderlich um sie, und Männer, so erwachsene Männer halt, nicht bloß an Jahren gealterte Wesen mit Y-Chromosom, denen war sie offenbar nicht attraktiv genug, was sie sich aber nicht recht erklären konnte. Indem sie in ihrem Verhalten also nicht von wild triebhaftem Verlangen geleitet wurde, ihrem Gegenüber lediglich ihren Körper hingab, selbst mehr von Aufmerksamkeit und persönlichem Respekt angetrieben, war und blieb sie auf eine seltsame Art jungfräulich und unschuldig. Es war da aber auch eine gewisse Sammlerleidenschaft, nicht darum, um sich mit anderen zu vergleichen, sondern vielleicht eher mit dem Ziel, den Einen, den Besten, den Richtigen aktiv zu suchen, ja nicht zu versäumen.

Mit ihrer Umtriebigkeit stieß sie natürlich auch auf Sadisten, Perverslinge. Aber weil sie eben so unschuldig und unvoreingenommen war, passierte ihrer Seele niemals etwas inkurables. Und auch körperlich blieb sie immer ohne Dauerschäden. Jedenfalls kam sie in ihrer Lebensart aber einigermaßen in der Gegend herum.

Wegen des Geredes distanzierte sich ihre Familie, Mutter, Großvater, zunehmend von ihr. Seltsam! Sie dachte, dass solche Gerüchte hier doch keine Rolle spielen könnten. Seltsam und egal! Melanie erkannte, dass sie von zu Hause nicht mehr viel zu erwarten hatte, brauchte Geld, suchte sich Arbeit, ungelernt, als Packerin in einem Fleisch verarbeitenden Betrieb, nahm sich eine kleine Wohnung in Pabneukirchen. Sie wusste fast sofort: Das konnte nicht ihr Leben sein. 1985, um ihr achtzehntes Lebensjahr herum, setzte sie deswegen einen Plan um. Sie hatte etwas Geld gespart.

Sie besuchte ihre Familie, nahm alle ihr wesentlich erscheinenden Papiere, und fuhr per Anhalter nach Grein. Ein Traktorfahrer mit Anhänger nahm sie mit. Ein Abschied vom Landleben mit 20 km/h. An der Bundesstraße, am Donauufer, am Parkplatz vor de n Eisdielen würde sie fragen, wer sie denn mitnehmen wolle in ein besseres Leben. Es musste kein motorradfahrender Höllenengel sein, und auch die Richtung war egal. Nur nach Norden, in den nahen, den bekannten Norden, in die faden kalten Höhen hinauf, da wollte sie nicht. So kam sie am ersten Tag nach Persenbeug, von dort wanderte sie über die Donaubrücke nach Ybbs, von dort fuhr sie - wiederum per Anhalter - in die Hauptstadt des Nachbarbezirks, zum Eingang des Theresienthals, nach Amstetten, in dem es Abend wurde.

Amstetten, obwohl Bezirkshauptstadt, war (und ist) nicht berühmt für sein rauschendes Nachtleben. Abgesehen vom Hochsommer rollt man dort die Gehsteige spätestens um 20 Uhr ein, und so fand Melanie, die eine Schlafgelegenheit suchte, niemanden, den sie darauf ansprechen oder umgarnen konnte. So trottete auf einer Ausfallstraße der untergehenden Sonne nach, schlug sich in ein Gestrüpp neben der parallel verlaufenden Eisenbahnstrecke. Das Gestrüpp verlassend sah sie die Straße, plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite der Geleise, die Lichspuren der fahrenden autos in der beginnenden Dunkelheit. Sie lauschte einem eventuellen Sirren der Schienen, schaute sorgfältig links-rechts-links-rechts-links und huschte über die Gleisstrecke. Wie aus dem Nichts raste plötzlich doch ein Zug heran, das Sirren war nur kurz, wurde beim Näherkommen rasch zu einem wilden Rauschen, bei der Passage des Zuges zu einem hämmernden Donnern. Sie stolperte über eine Schiene, fiel, drehte sich über eine zweite Schiene hinweg und rutschte vom Schotterbett der Geleise in einen verwilderten, feuchten Graben. Gerade rechtzeitig. Der Lokführer würde sie nicht gesehen haben, kein Hupen, kein Bremsen. Der Zug raste vorbei, ihr Herz schlug, als nähme es Anlauf zu zerplatzen. Nur mit viel kühler Luft in den Lungen konnte sie es festhalten, beruhigen. Wahrscheinlich hatte sie nur ein paar kleine Schürfwunden, nichts schmerzte sie besonders. Aber sie würde weg müssen, vielleicht schickte die Zugbesatzung jemand zur Untersuchung der Strecke.

Als sie dann auf Knien und Händen die Böschung auf der Straßenseite hochrobbte - sie hatte einige Häuser, Hallen, gesehen zwischen sich und der Straße, da bemerkte sie gleich rechts neben sich eine gemauerte Höhle. Die Steine, strahlten noch eine einladende trockene Abendwärme aus, und sie überlegte, dass hier vielleicht ein Schlafplatz für sie sein könnte. Sie passte gerade in das Loch, viel Platz zum Drehen und Wenden war da nicht. Sie kroch einige Meter in den dunklen Gang, viele Meter, falls man sie suchte, dann rollte sie sich zur Seite. legte ihren Kopf auf den Arm und schlief ein.

Am nächsten Morgen erwachte sie sanft und guter Laune, über die sie sich wunderte, als sie sich den Vortag in Erinnerung rief. Sie kroch mühsam mit den Füßen voran aus der Röhre, über den Bahndamm hinauf und sah auf der gegenüberliegenden Seite der Eisenbahnstrecke ein kleines Wäldchen, zu dem sie - nach genauer Musterung der Umgebung und noch sorgfältiger auf etwaigen Zugverkehr achtend - über die Geleise lief. Dort war auch ein winziges, augenscheinlich sauberes Bächlein mit einigen Mäandern, an denen sich Tümpel gebildet hatten. Ein Glücksfall.

Nachdem sie sich halbwegs zurechtgemacht hatte, erkundete sie die Gegend und fand und kaufte alles, was sie unmittelbar brauchte: Essen, eine Flasche Cola, von dem sie glaubte, es wäre eine Art leichtes Universalmedikament, die wesentlichsten Sanitärartikel, eine Haarbürste, ein Taschenmesser mit Klinge und Schere, eine Taschenlampe mit Batterien, ein Gasfeuerzeug, drei Stumpenkerzen. Dann ging sie spazieren durch die Felder, am Rand eines Hanges durch einen Auwald, durch den Anfang des Theresienthals, das eine Zaubergegend ist, doch das wusste sie damals nicht, auch wenn einige Sporen und Samen und Krümel sich in ihren Kleiderfalten, ihrem Haar, unter ihren Nägeln verfingen. Und gleichzeitig spazierte sie durch ihren Geist: Eine Bestandsaufnahme, eine Abschätzung ihrer Möglichkeiten, eine Beobachtung ihrer Gefühle. Sie staunte, wie kraftvoll und ausgerastet sie sich fühlte. Angesichts ihrer knappen Finanzen würde sie Geld verdienen müssen. Die Möglichkeiten erschienen ihr nur vage. Sie würde noch ein paar Tage in der Gegend herumstreifen, Kraft und Ideen sammeln.

Zuerst wollte sie ihre Schlafhöhle weiter erforschen. Als sie wieder hineinkroch, bemerkte sie, dass die Öffnung zum Bahndamm hin wohl vergittert gewesen war, das Gitter war aber aus den Scharnieren gehoben, die Schlossarbe aufgebogen. Das verrostete Stahlblech lag unten beim Bahndamm, neben dem Schotterbett. Sie robbte in den Tunnel, verstaute ihren Einkauf, und robbte weiter. Nach etwa 20 Metern, so schätzte sie, kam sie wieder zu einem herausgesprengten Gitter, hinter dem eine Kammer, vielleicht zehn Quadratmeter groß, lag. Einige Kisten standen herum, Spuren eines Lagerfeuers, Kerzen. Sie rollte sich in die Kammer. Wahrscheinlich hatten Jugendliche hier gespielt. Ein Feuer würde sie nicht machen; wohin sollte der Qualm abziehen. Nach Erforschung der Kammer schaffte sie ihre Vorräte hinein, ging nochmals »Einkaufen«, wobei sie auf Müllbehältern alte Verpackungskartons und sonstige weiche Materialien für ein Nachtlager herauskramte.

Sie blieb einige Zeit in ihrer »Höhle«, und es war eine Art Robinsonade. Ähnlich wie der einsam auf einer Insel Gestrandete entdeckte sie täglich Neues, lernte dazu, mehr als in ihrem ganzen bisherigen Leben, wie ihr dünkte. Menschenfresser gab es keine, aber genügend Begegnungen mit anderen Menschen, bei denen sie sich in acht nahm. Sie lernte dabei auch, ihre Ängste, diese Ängste, zu kontrollieren. In der Höhle führte sie einen beinahe schon ordentlichen Haushalt.

Und dann wusste sie, was sie weiter tun würde: Sie würde von Männern leben, sich von galanten älteren Herren aushalten lassen, sich so eine Existenz aufbauen, bis sie dann endlich, aber bald, so dachte sie, frei sein würde. Das würde aber nur in einer größeren Stadt mit vielen Menschen funktionieren. Sie packte ihre Siebensachen, machte sich adrett, deponierte entbehrliches Habe geordnet für einen etwaigen Nachbewohner und nahm Abschied aus und von ihrer »Höhle«, mit mehr Wehmut als von ihrem vorherigen Zuhause. Dann fuhr sie als Anhalterin in die große weite Welt.