Peter Hofegger fuhr durch den Nebel ins Tal hinab, für das der Nebel zur Wolkendecke, eigentlich zu einem Hochnebel, geworden war. Der Geisterparkplatz vor seinem Firmengebäude sah noch geisterhafter aus in diesem weißen, konturenschluckenden Licht. Als er in der Firma war, endete die Welt scheinbar wenige Meter vor den Auslagenscheiben.

Nach seinen ersten Morgenkontrollen - nichts hatte sich verändert - wendete er seine Aufmerksamkeit einem Einbau an der Wand zwischen Verkaufsräumen und Lager zu: Auf der Lagerseite war hier ein etwa 20 Quadratmeter großer Raum angebaut, nur halb so hoch wie das Hallendach. Seitlich ging eine Leiter zur Decke dieses Einbaus, zur Halle hin hatte er drei dunkelgrün gestrichene, abgeschlagene Stahltüren mit Lüftungsgittern. Der linke und der mittlere Raum waren mit Warnschildern versehen, alt, aber Peter schloss aus den abgebildeten roten Blitzen, dass hier irgendwelche Elektroinstallationen oder Schalträume dahinter liegen würden. Der rechte Raum war gänzlich unbeschriftet. Vor dem Lüftungsgitter war ein deutlicher kühler Luftzug in die Halle herein zu spüren. Alle Räume waren versperrt, mit alten Einbauschlössern.

Im Büro fand er in der obersten Lade des Schreibtisches einen Schlüsselbund, die eisernen Schlüssel schwarz und zum Teil leicht angerostet. Einer der Schlüssel schien zur unbeschrifteten Tür zu passen, aber er ließ sich nur etwa eine Vierteldrehung drehen. Peter holte einen Kriechölspray aus dem Auto - der alte Klapperkasten brauchte an allen Ecken und Enden laufend entsprechende Behandlungen - und sprayte das Schloss kräftig und mehrmals ein. Nach einiger Zeit versuchte er nochmals, aufzusperren, verwendete diesmal die Zange zur Unterstützung. Er wollte seine Versuche schon beenden, befürchtetem, den Schlüsselbart abzureißen, als der Sperrmechanismus sich plötzlich teigig zu bewegen begann. Nachdem er die Beleuchtung über einen alten, ausgeleierten Drehschalter eingeschaltet hatte, fand er hinter der Tür einen weitgehend leeren, verstaubten Raum, in dessen hinterer Hälfte eine steile Stiege nach unten führte. Sicherheitshalber sperrte er das Geschäft ab, dann stieg er vorsichtig, den Rücken voraus, in den tiefer gelegenen Raum, der um einiges größer schien als der darüberliegende.

Schon beim Hinuntersteigen dachte er, dass hier jemand gewohnt haben musste. Ein paar Kisten standen herum als Tisch und Sessel, mit einer Pfanne, einem Topf, Besteck. Daneben ein Campinggaskocher, eine Gaslaterne, eine Art Bett aus Kartons und Teppichen mit einem Schlafsack, herumliegende Tageszeitungen und Illustrierte. Die Beleuchtung war eher dumpf, sodass er mit dem Strahl seiner Taschenlampe den Raum näher untersuchte. An einer Wand lehnte eine Wellpapptafel, gestützt von einer hochkant aufgestellten alten Bananenschachtel. Hier schien ein Luftzug herzukommen. Peter zog an einer Ecke der Papptafel, die Bananenkiste fiel um, sichtbar wurde ein enger Schlief, vielleicht ein Abflusskanal, vielleicht eine Lüftungsröhre. Bei dessen näherer Untersuchung war ei n entferntes Licht sichtbar, wahrscheinlich führte er ins Freie. Peter wollte nicht in die Röhre kriechen, die für seinen Körperumfang sehr eng schien. Er stellte die Bananenschachtel wieder hochkant vor das Loch und untersuchte den Kellerraum nochmals genau, wobei er drauf achtete, nichts zu verändern.

Da war nichts Unerwartetes, im Augenblick war ihm nichts erkennbar, was auf den Nutzer hingewiesen hätte. Deshalb stieg er wieder hoch, schloss die Tür ins Lager hinter sich, ohne sie zu versperren. Dann kontrollierte er den Verkaufsraum, den Parkplatz, nichts. Er ging zurück ins Lager, durch das dortige Tor auf den Platz hinter dem Gebäude, dann in die Richtung, in der er den Verlauf des unterirdischen Ganges vermutete. Ein etwa 2 m hoher Maschendrahtzaun, dahinter Bahngelände. Keine Durchgänge links und rechts. Den Zaun zu überklettern gefiel im gar nicht, er wäre dabei fast so hoch wie die Oberleitungen der Bahn gekommen. Der Sicherheitsabstand hätte jedenfalls ausgereicht, aber die Idee gefiel ihm nicht. Er wollte lieber unten eine Lücke im Zaun schaffen. Eine Ecke freischneiden, hochklappen, nach Gebrauch wieder verschließen, mit einem Draht sichern. Aber mit seiner Zange schaffte er es nicht, den Zaundraht abzuzwicken.

Obwohl der Hochsommer längst vorbei war, war der Nachmittag unangenehm schwül. Die drückende Feuchte schien so gar nicht zu den vertrocknenden Maispflanzen auf den Feldern zu passen, die schwarzgrauen Gewitterwolken, die sich über das Land rollten, schon. Peter besorgte sich bei einem Baumarkt noch einen Bolzenschneider, war unruhig, zentrumslos, schlief schlecht und mit wilden Träumen.

In der Nacht musste es heftig geregnet haben, überall standen tiefe Lacken, und das hatte Spuren in die Schotterwege gegraben, den Schotter von den Rändern in die Felder hineingespült.

Peter kontrollierte den Parkplatz, das Geschäft, ging ins Lager, warf einen kurzen Blick in den Keller. Kein Wasser. Dann sperrte er das Gescvhäft, stellte das Auto als Sichtdeckung auf und schnitt die Zaunmachen neben einem Steher vertikal etwa einen halben Meter hoch auf, waagrecht entlang des unteren Spanndrahtes, bis er - nach mehreren Versuchen - sich durch das Loch winden konnte. Geduckt schlich er den Bahndamm hinab. Ein unerwartet vorbeirauschender Zug ließ ihm das Blut gefrieren Er schlich den Bahndamm entlang: Nichts. Erst nach mehreren Versuchen fand er, zwischen Pappeltrieben, verdeckt mit verdorrten Grashalmen, einen Einstieg in eine unterirdische Röhre. Das musste er sein. Aber die Untersuchung des Eingangs, seiner Umgebung: Nichts!

Er tarnte das Loch wieder. Noch ein Schnellzug. Er kletterte zum Zaun hinauf. Ein Güterzug. Er rollte sich auf den Parkplatz, bog die Zaunecke hinunter, band sie mit einen Stück Draht fest. Ein Schnellzug ...

Die Züge waren ihm im Geschäft kaum aufgefallen. Das lag wahrscheinlich daran, dass die Bahntrasse eingetieft verlief, der Schall von den Busch- und grasbewachsenen Hängen geschluckt wurde. Peter ging ins Geschäft, machte sich frisch. Dann stieg er nochmals in den Keller, untersuchte alles hochnotpeinlich, packte die Zeitschriften zusammen und nahm sie mit in sein Büro. Der Keller war einigermaßen trocken gewesen, das Papier hatte sich gut erhalten, roch nur ein ganz kleines wenig modrig.

Den Rest des Tages wollte er damit verbringen, die Zeitungen zu studieren. Zuerst fand er keinerlei Anhaltspunkte, dann später, einen winzigen Beitrag in einer Bundeslandzeitung über seinen Prozess, eigentlich nicht seinen Prozess, sondern die Prozessreihe, die den Mitarbeitern seiner Firma gemacht worden war. Anlass für diesen reminiszent gehaltenen Artikel dürfe dann aber doch sein Gerichtsprozess gewesen sein. Der Verfasser erging sich in einem Lamento über das Böse der Finanzbetrügereien. Peter sah dieses Böser mittlerweile auch, aber er kannte auch die Gier seiner Kunden, die auch das Unwahrscheinlichste hatten glauben wollen, wenn es ihnen nur Glück - genauer gesagt Geld - versprach. Alle Tageszeitungen berichteten über die Jahre 2002 bis 2003, mehrfach über blutige Unterweltskriege in Linz. Er fühlte sich seltsam erinnert. Dann fand er in Lokalnachrichten plötzlich ein Bild von Melanie, so wollte er zaghaft glauben, denn das Bild war grob gerastert. Melanie stand inmitten einer Menschengruppe, ein Kind auf dem Ar, ein Pfarrer im Vordergrund, händeschüttelnd mit einem mittelalten Paar. In der Bildunterschrift wurde berichtet, dass in Bad Kreuzen eine Pflegefamilie mit Unterstützung der Gemeinde und des Landes einen alten, nicht mehr bewirtschafteten Bauernhof als Kinderbetreuungseinrichtung eröffnet hatte.

Peter wollte es nicht glauben. Das Schielen Melanies ging in der Rasterung unter, er konnte es nicht erkennen, er sah es deutlich. Diese Nacht schlief er ganz schlecht, durch wilde Träume immer wieder geweckt.

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