Eines Abends machte sich Peter in seiner Wohnung eine kleine Mahlzeit. Auf dem Heimweg hatte er seinen Wocheneinkauf erledigt, dabei ein paar Leckerli besorgt Er freute sich darauf, sich in der Abendsonne vor das Haus setzen und in das Land hineinzuschauen. Unter der Dachtraufe stand eine angegraute Holzbank, davor - vom Regen nicht geschützt - ein massiver Tisch mit einer dicken, dunkelgrau verwittert und bemoosten Holzplatte, aus der man die weichen Fasern leicht herauskratzen konnte. Mit einem Holzspan, seinem Essbesteck, seinen bloßen Fingernägeln hatte er schon herumgekratzt, in Anspannung, aber auch im Grübeln. Nur wenige Spuren: niemand außer Peter saß jemals mit ihm an diesem Tisch.

Wie er da so Geschirr, Besteck, Lebensmittel penibel ausgerichtet auf seinem Essplatz arrangierte, fiel ihm Franz Kafka wieder ein. Im Gymnasium hatten sie gelesen von ihm: Die Verwandlung, ein Stück, in dem ein Mann eines Morgens plötzlich als Käfer aufwacht. Diese Geschichte geht nicht gut aus, zumindest nach den Maßstäben Peters. Die Sprache hatte ihn fasziniert, diese schonungslos auf Fakten reduzierte Beschreibung der Vorgänge. Aber die Geschichte selber hatte ihm damals nicht gefallen, sie war ihm so unrealistisch und sinnlos erschienen, so anders, als er die Welt und sein Leben damals gesehen hatte. Rückblickend meinte Peter, er wäre wohl ein hoffnungsvoller Optimist gewesen in früheren Zeiten. Aber ganz sicher war er sich dieser Erinnerung nicht. Jedenfalls hatte er immer rasche Entscheidungen getroffen, war sich dabei seiner selbst sicher gewesen. Er hatte ordentlich Geld verdient, hatte in jeder Beziehung Luxus genossen, jahrelang.

Melanie fiel im wieder ein. Trotz Sonnenschein und gutem Essen und Trinken wurde er haltlos traurig. Und ohne sein bleischweres Sitzen auf der Bank wäre er in dieser trauer versunken und zerschmolzen.

Gedankenbilder sind schnell und umfassend, räumliche und zeitliche Panoramen. Da war auch das Leben vor Melanie. Irgendwann war da Schluss mit lustig, ziemlich abrupt, ziemlich folgenreich.

In die Versicherungsbranche wäre er eingestiegen, so hatte er zumindest anfangs gedacht. Smart war er gewesen, erfolgreich. Geld im Überfluss, Zugang in die Gesellschaft, eine in jeder Hinsicht attraktive Partnerin. Die Hochzeit: Ein Ereignis! Mondäne Flitterwochen. Repräsentative Wohnadresse in Wien. Aber leider war dann eine Art doppelter Unglücksfall eingetreten. Der Markt war gesättigt, es waren keine Versicherungen mehr zu verkaufen, man konnte auch kaum mehr neue Versicherungsvertreter anwerben, und so wurden die Prämien dünner und dünner. Auf der anderen Seite war das Unternehmen, für das er arbeitete, ins Gerede gekommen: Durch das Vertriebs- und Prämiensystem wären die Kunden abgezockt worden, hätten viel Geld für wenig Versicherungsleistung bezahlt, und unbedarfte Menschen wären in das Vertriebssystem gelockt worden, in dem sie nun - rundherum finanziell gebunden - feststeckten.

Das mit der rundherum finanziellen Bindung erfuhr Peter rasch am eigenen Leib. Nachdem die Prämienflüsse ausblieben, konnte er die vielen finanziellen Löcher, die sich auftaten, nicht mehr stopfen. Er hatte Gelder eingenommen, ohne das bisher die dafür zugesagten Leistungen erbracht worden waren. In Peter wuchs der leise Verdacht, dass dies rechtlich vielleicht nicht ganz in Ordnung sein könnte, und damit geriet sein Leben rasant aus den Fugen. Nach Beratung mit einem Anwalt machte er zuerst Inventur, erbleichte, beriet sich nochmals und machte eine Selbstanzeige. Seine wunderhübsche, entzückende, gebildete und charmante Gattin, die er bei einem gesellschaftlichen Anlass der Schönen und Reichen kennengelernt hatte, mochte mit einem Hallodri wie ihm plötzlich nichts mehr zu tun haben und verlangte die Scheidung, in die er beinahe erleichtert einwilligte. Materielles hatte er ja quasi nicht mehr zu verlieren. Es war zwar nominell durchaus noch einiges da, aber das würden sich verschiedene Gläubiger, Steuer, Sozialversicherung und eben seine Gattin aufteilen müssen. Eine Sorge weniger - fast ein Grund zu lächeln.

In den ersten Tagen schien sich nicht viel zu ändern nach dieser Selbstanzeige. Dann geriet er in eine kleine Lawine: Einvernahmen durch die Polizei und Finanzpolizei. Erklärungsaufforderungen des Finanzamts. Pfändungsanträge verschiedenster Stellen, uind plötzlich war auch kein Geld mehr da, keines zu erreichen. In derartigen Situationen merkt man, wie wenige Freunde man eigentlich hat. Zwangsläufig verliert man dann alles, jegliche Lebensgrundlage. Peter war weder verzweifelt noch panisch, er flüchtete auch in keine Scheinwelten, wenn er auch das, was ihm da widerfuhr, nicht ganz richtig einschätzte. Eines Tages erkannte er, dass er sehr wie Kafkas verwandelter Käfer geworden war, dass alle, die aus den gesellschaftlichen Erwartungshaltungen heraustraten, in solche Käfer verwandelt wurden, gleich, ob sie jetzt gesellschaftlich geächtet wurden oder an Krebs erkrankten.

Nach vielen Wochen, über die die Behörden und Gerichte ihn zappeln ließen, war dann klar, dass man Peter einen ordentlichen Strafrechtsprozess machen würde. Natürlich würde sein oberster Chef und viele, viele Vertriebsmitarbeiter auch vor Gericht stehen, ein Junktim für Peters Prozess. Er schätzte, dass es bis zum Prozess ein halbes, vielleicht ein dreiviertel Jahr dauern würde. Gerichtsort war Linz, weil Peters ehemalige Firma, mittlerweile im Konkurs, dort ihren Firmensitz gehabt hatte, und so zog Peter aus Wien, wo er ja gar keine Bleibe mehr gehabt hatte, nur mehr bei wechselnden Bekannten untergekommen war, Richtung Linz.

Dort war er Melanie begegnet, war in sie hineingefallen, als ob sie gerade dazu auf ihn gewartet hätte. Seine Käferverwandlungswelt war erfüllt wie nie zuvor, vom ersten Augenblick an. Peter verschloss die Fenster zur Außenwelt, wohl wissend, dass er dadurch sein Schicksal nicht würde ändern können. Aber er wollte sein Glück zeitlos genießen.

Aus dem Inneren eines Systems heraus kann man nie das gesamte System beurteilen; aus einer persönlichen Wunschwelt heraus nicht die ganze, und so kann man seine Rolle in dieser Existenz auch schlecht einschätzen. Es ist seltsam, wie fremd und gefährlich Menschen zu erscheinen beginnen, wenn man sich - wie Peter - eine Zeit lang zurückgezogen und gegen die Außenwelt gesperrt hat. Je mehr man sich der Welt verschließt, um so mehr beschäftigt man sich mit sich selber. Oder ist es umgekehrt? In einer solchen Isolation versuchte Reflexionen stützen sich dann oft auf Vermutungen, Fehleinschätzungen, Missverständnisse. Gedankengänge werden in vermeintlich konsequenter Logik gegangen und führen fast zwangsläufig in Paradoxe.

Peter wusste nicht, wie ihm geschah, was er machen sollte, als Melanie plötzlich aus seinem Leben verschwand. Er suchte sie in der Stadt, er suchte sie in seinen Gedanken und Gefühlen, aber sie blieb verschwunden. Dann kam der Prozess, das Gefängnis, das Matratzen-Geistergeschäft.

Weil die Sonne noch immer leuchtete, abendorange und tief schon mit wunderbaren Streiflichtschatten auf der uralten, geweißten Bauernhausfassade, weil die Wiesen blühten und dufteten, fasste Peter wieder Mut und einen Plan: Morgen wollte er seine Arbeitsstätte genau durchsuchen.

Sehr abenteuerlustig legte er sich ein paar Sachen zurecht: Eine Taschenlampe, ein Schweizermesser, eine Kombizange, etwas festen Draht, den er in Schleifen zusammen bog, eine Rolle Paketschnur. Er räumte noch ein wenig herum, machte dies, sah sich das an, wusch sich kalt und ging zu Bett.

Mit dem stereotypen Bild eines chinesischen Weisen mit weißen Haaren und Bart glitt er schon beinahe in den Schlaf, als Melanie zu ihm unter die Decke schlüpfte. Das war natürlich nur eine Fantasie, aber er vermeinte doch, ihre Wärme zu spüren, ihren Duft, wie sie sich aneinanderdrängten, wie aus der Wärme Begierde wurde, ganz selbstverständlich, ganz rein.

Der Körper war müde, aber er lag ja im Bett. Natürlich war Melanie nicht da. Ein kleiner Schmerz wuchs rasch heran, die Gedankten drehten trockene Kreise und scheuerten, kreischten und verrieben und kamen nicht weiter, mit keiner Runde. Klar wusste er lediglich, dass er Melanie auf eine ganz besondere Art gemocht und begehrt.

Warum er sie gemocht hätte? Er suchte herum. Irgendwie waren sie gleich gewesen, irgendwie waren sie gleich hoch gewesen, Sie hatte ihm nichts aufdrängen wollen. Er hoffte, dass er sie nicht genötigt habe. Sie hatte nichts besser gewusst. Seltsam: Er konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals einen Wunsch gehabt, ausgesprochen hätte.

Er schlief eine seltsame Nacht mit wahrscheinlich seltsamen Träumen, an die er sich nicht erinnern konnte. Er erwachte mit einem seltsamen Körpergefühl, nicht wirklich schlecht, nicht wirklich gut. Ob der Tag gut werden würde, war nicht abzusehen. Rund um das Haus lag dichter Morgennebel, so früh, dass man die Sonne dahinter nicht erahnen hätte können.