Es war nicht so leicht gewesen, Andrea abzuholen. Die Adresse, die sie ihm gegeben hatte, hatte eher Insider-Charakter und brachte Google Maps in Bedrängnis. So fuhr er denn, so weit es absehbar war, und begann dann, sich durchzufragen, bis er schließlich in eine bäuerliche Rotte kam, 3, 4 Höfe, einige Wirtschaftsgebäude lose in einen Taleinschnitt der Mühlviertler Hochebene hineingestreut. Selbst dort musste er sich durchfragen, bis er zum Heimathof Andreas kam.

Er ließ das Auto leise vor dem Wohntrakt des Hofes ausrollen. Fast zeitgleich stürmten die beiden Kinder aus einem gegenüber liegenden Gebüsch und warteten vor der Fahrertür auf sein Aussteigen. Andrea kam hinzu, und sie hatte sich hübsch zurechtgemacht. Wieder ein Dirndlkleid, diesmal aber festlich in dunkelviolett-schwarz-gold mit weißer Rüschenbluse, scheinbar sehr züchtig, doch wiederum Andreas weibliche Attribute betonend. Die Haare trug sie nach hinten zusammengefasst in einen kecken kleinen Rossschwanz. Peter hätte in seinem früheren Leben nicht gedacht, dass er solche Kleidung jemals als zu ihm passend akzeptieren würde, aber Andrea sah einfach appetitlich aus. Er überlegte: Schwarze Röhrenjeans, eierschalenfarbenes Sporthemd, dunkelbraune Lederschuhe und passender dunkelbrauner Gürtel. Eine leichte weiße Leinenjacke hatte er auch noch mit, Sonnenbrillen ins Haar geschoben. Ein ganz anderer Stil, aber underdressed war er wohl nicht.

Die Kinder umringten ihn dringend, als ob er ihre Beute wäre, und drängten ihn ins Haus. Es war fast mühsam, Andrea zu begrüßen, aber es war eine lachende Begrüßung. Peter war dankbar. In der Stube erwartete sie ein Paar, beide etwa in Peters Alter, und Andrea stellte sie einander vor: »Meine Schwägerin Annie - Peter, Peter - Annie, mein Bruder Karl - Peter.« Peter wurde gedrängt, am Tisch Platz zu nehmen. Was er denn trinken wolle. Der Raum war bäuerlich eingerichtet, aber authentisch, zweckmäßig, nicht volkstümelnd verkitscht. In der Ecke gab es eine riesige gemauerte Herdluke, vielleicht ein Brotbackofen, darüber eine kleine Luke, vielleicht eine Selche? Er mochte das.

Die Kinder drängten an den Tisch und wurden von den Bauersleuten an die Längsseiten gesetzt. Dabei bekam Peter eine Ahnung, dass der Nachwuchs wohl derjenigen der Bauersleute sein könnten, nicht von Andrea. Irgendwie freute ihn das einen kurzen Moment, fast gleichzeitig aber schalt er sich, so altmodisch und kleinmütig zu sein. Dann öffnete sich eine Tür rechts im Raum, also quer zu der Seite, über die sie eingetreten waren. Etwas gebrechlich schon schlurften ein alter, gebeugter Mann, eine alte, noch mehr gebeugte Frau mit einem Gehstock, beide in weiten, vertretenen Filzpantoffeln herein: Die Altbauern. Und wahrscheinlich waren sie damit auch Andreas Eltern. Peter überschlug: Wenn sie auch schon 70 Jahre alt, wenn nicht sogar älter, sein mochten, also gar nicht jung Eltern geworden waren, so waren sie in jedem Fall doch sehr abgearbeitet. Eine andere Welt.

Beide schüttelten ihm die Hand, die Kinder räumten respektvoll ihre Sitzplätze und warteten sogar, den Großeltern vielleicht behilflich sein zu können. Es war einfach schön. Peter liebte dieses Getragene, Bodenständige, und er konnte, wollte, viel Liebe darin sehen, aber nicht die überkandidelt neurotische, viel Weisheit, nicht die Anhäufung von Wissen jenseits des Alltages, nicht die Zurückweisung dieses Wissens jenseits des Alltags,

Sie plauderten dies, sie plauderten das, ein erwartbarer Smalltalk, Erzählungen ohne viel oberflächliches Gewicht. Peter hatte das Gefühl, ein wenig erforscht und taxiert zu werden, spürte gleichzeitig Respekt und Zuneigung. Die Leute kannten ihn nicht. Er kannte sie nicht, bekam aber plötzlich Angst, das alles, dieses Neue, zu verlieren, wenn sie nur über ihn Bescheid wüssten. »Darf ich etwas sagen?«, fragten beide Kinder immer, bevor sie etwas sagten. Und sie hätten dir ungeheuerlichsten Dinge sagen und fragen können, ohne dass man ihnen böse hätte sein können. »Darf ich etwas sagen ...!«

Nach einer guten Plauderstunde, die sich in Lächeln auflöste, verabschiedeten sich Andrea und Peter, um nach Grein zu fahren. Peter hielt seiner Begleiterin die Autotür auf, bekam plötzlich ein wenig eckige Gelenke, und ein Frosch setzte sich in seinen Hals. Dann fuhr er los mit seinem alten Auto, für das er sich schämte, mit etwas zu viel Gas, für das er sich schämte. Wahrscheinlich rauchte es aus dem Auspuff. Auch dafür schämte er sich, aber diese ganze Scham konnte er nicht loswerden, weil er war ja einerseits nicht hemmungslos allein, andererseits saß ihm ja der verstopfende Frosch im Hals, wo er vorerst auch verblieb.

Grein ist der Mittelpunkt der Welt, zumindest in den Gedanken der Anwesenden. Nicht nur beim Stadtfest, das nur alle zwei Jahre einmal stattfindet, sondern jederzeit. Und es stimmt auch, sowohl physikalisch - Grein ist immer Mittelpunkt der augenblicklich von d ort aus beobachtbaren Welt -, wie auch psychologisch: Grein ist der augenblickliche örtliche, räumliche Mittelpunkt meiner Wahrnehmungen und Interessen. Beide Aussagen gelten für jeden anderen Aufenthaltsort aber ebenso wie für Grein, und so könnte man sagen, bei der Begegnung von zwei Menschen verschiedener Herkunft begegnen sich Welten. Über das kann man ja diskutieren. Als sich Pavel und Peter das erste Mal sahen, war es aber auf jeden Fall so.

Beim Stadtfest war die Bundesstraße entlang des Donauufers abgesperrt worden, und in diesem Bereich - zwischen Altstadt, Schiffsanlegestelle und Uferpromenade - waren eine Bühne und verschiedene Verkaufsstände für Speis und Trank aufgebaut worden. Den ganzen Tag spielten unterschiedliche Musiker und Musikanten, zwischen Volksmusik, volkstümlicher Musik, Coverversionen moderner Hits, Schlager, zeitweise sogar psychedelische House- und Trance-Musik vom Band (oder Computer), zu der Akrobatik- und Pole-Dance-Darbietungen gezeigt wurden.

Andrea und Peter glitten durch die Massen. Keiner von beiden zog, keiner von beiden musste gezogen werden. Toll! Peter kannte niemand, suchte nach niemandem, und das war ihm ganz recht so. Anders bei Andrea: Sie schien dort alle zu kennen, wechselte mit vielen ein paar Worte, und blieb hin und wieder für ein kleines Gespräch stehen. Nicht so lange, dass es Peter gestört hätte, so kategorisierte dieser es, aber doch weniger toll. An den Verköstigungsständen herrschte reges Gedränge. Diejenigen, die ihre »Beute« schon gemacht hatten, suchten sich einen Sitzplatz an den aufgestellten Tischen, auf Treppen, an den Uferbefestigungen. Peter hatte sich - als Kavalier - angestellt, reichte Besteck, Teller mit einem Hähnchen und Kartoffel- und Krautsalat, ein großes Glas Soda-Zitrone, nach hinten zu Andrea durch, und schlüpfte dann - mühsam sich verbiegend - ebenfalls aus dem Gedränge um den Stand. Sie suchten und fanden einen Sitzplatz auf einem riesigen Betonblock am Kai. Andrea war fast ein wenig klein, um sich leicht darauf zu setzen, und so sah sie Peter an, der ihr stützend die Arme reichte. Wieder so ein bedrängender erwärmender unklarer Augenblick.

Während des Essens sprachen sie wenig, ein wenig über ihre Ess- und Trinkvorlieben. Der Frosch hatte sich von Peter weder hinunterschlucken noch aushüsteln lassen, jetzt schien er sich einfach aufgelöst zu haben. Trotzdem sprachen sie auch nach der Mahlzeit nicht viel, bei Peter vorhersehbar, bei Andrea - für den voreingenommenen, vermutenden Peter - verwunderlich. Es war gut so. Sie ließen ihre Blicke schweifen, hörten die Musik, kommentierten hin und wieder das Gesehene, gehörte, ihre Gedanken zu Welt. Und plötzlich verfing sich Peters Blick in dem eines Mannes, der ihm unmittelbar und starr in die Augen sah.

Wenn wir ziellos umherschauen, dann bleibt unser Blick, immer irgendwo hängen, bei einer interessanten Wahrnehmung. Wir sind es, die das Interesse haben, wir sind es, die sich Gedanken machen. Anders ist es bei direktem Augenkontakt. Natürlich müssen wir auch in einem solchen Fall neugierig sein, sonst würden sich unsere Augenblicke ja gar nicht verfangen. Aber es ist mehr, es ist eine augenblickliche tiefe Begegnung, ein Erkennen des anderen, ein Erkennen, dass man erkannt worden ist, eine wuchtige Begegnung, eine Verschweißung für den Moment.

Der Mann war sicher einige Jahre älter als Peter, ohne jedes Lächeln, ohne jede Leichtigkeit, teuer, gleichzeitig aber auch ein wenig aufdringlich gekleidet mit brauner Lederjacke, weißem Hemd mit weit geöffnetem Kragen, Goldschmuck, goldgerahmte Sonnenbrille ins Haar geschoben. Dieser Mann ließ Peters Blick nicht los, und Peter hatte plötzlich den Eindruck einer rasch sich aufstauenden gewaltigen Bedrohung, derer Art er sich aber nicht vorstellen konnte.

Der Mann auf der anderen Seite - Pavel - hatte vor geraumer Zeit von seinen Mitarbeitern erfahren, dass sie in einem Gasthaus im Mühlviertel ein Gespräch gehört hätten, das eventuell um Melanie gegangen war. In Bad Kreuzen wäre das gewesen, und natürlich war Pavel sofort auch dort gewesen. Keine Ergebnisse. Aber irgendwie hatte er die Ortschaft, die eventuelle Verbindung mit Melanie abgespeichert, und irgendwie hätte es ihn heute wieder einmal zum Kirchenwirt in Bad Kreuzen gezogen. Der Ort lag auf einer seiner Routen in die Tschechei, einige seiner Finanziers, also erpresste Unternehmer, Personen, hatten auch Dependancen in der Umgebung.

Aus dem Vorhaben des Gasthofbesuches war jedoch nichts geworden, weil wegen des Stadtfestes in Grein geschlossen war. So hatte es ihn denn voller Ärger mit seinen zwei Soldaten zu diesem Stadtfest verschlagen, und in Grein angekommen hatte er sich schon wieder geärgert, weil sie einen Parkplatz nur weit außerhalb des Veranstaltungsbereiches bekommen hatten, sie eine gute Viertelstunde durch die pralle, heiße Herbstsonne stapfen mussten. Dort ließ sich Pavel selbstverständlich von seinen Mitarbeitern einen guten und sicheren Sitzplatz freimachen, dazu brauchte er nichts zu sagen. Natürlich ließ er sich von ihnen bedienen, aber heute konnten sie ihm nichts recht machen. Er hielt seinen Zorn am Köcheln. Und als er da zornig herumsuchte, traf sein Blick den Blick eines jüngeren Mannes, eines eigentlich unauffälligen Mannes, bei dem vielleicht auffallend war, wie wenig, wie städtisch, wie sportlich er sich herausgeputzt hatte für dieses Fest, wie wenig er doch aussah wie die anderen Männer auf diesem Fest mit ihren Lederhosenverkleidungen. Der Mann war in Begleitung einer blondgelockten lächelnden Frau, blühendes Leben, reizvoll wie eine Apfelreklame. Der Mann und die Frau schienen irgendwie aus verschiedenen Welten zu stammen, zwei Pole eines Magneten, irgendwie wie die zwei Gesichter des Janus.

Aber die Frau interessierte Pavel nicht, sie war keine solche, wie er sie für seine Geschäfte brauchen hätte können. Das wusste er schnell, so stellte er es sich vor. Der Mann, er kannte ihn nicht, aber er kam ihm seltsam vertraut vor. Er befragte seine zwei Begleiter, doch das waren andere als die, die damals im Gasthaus zugehört hatten. Sie konnten ihm nichts sagen.

Pavel war plötzlich nicht mehr zornig, war angespannt wie ein Raubtier auf der Lauer. Die beiden würde er sich merken, die beiden würde er sich näher ansehen. Er stand auf, stützte sich auf die Tischplatte, ging los, geradewegs, alle anrempelnd, die ihm im Weg standen. Seine Soldaten schoben sich an seine Seite, rempelten mit.

Peter sah die Hände seines Augenblickers auf der Tischplatte, verkrüppelte, verfärbte Hände, beide. Er sah wie der Mann den Tisch beiseite schob, auf ihn zuging, und er bekam Angst, nahm Andrea an der Hand, zog sie vom Betonblock und mit sich. »Schnell, bitte!«, zischte er ihr zu, duckte sich leicht und drängte in den Menschenmassen im Zickzack-Kurs Richtung Altstadt. Als ihn nach einigen Sekunden Andrea fragte, was denn los sei, meinte er, so schnell könne er das jetzt nicht erklären, er wisse es ja selber nicht, aber er habe das Gefühl einer Bedrohung gehabt. Seine Begleiterin meinte, dass sie inmitten der Menschenmassen wahrscheinlich ziemlich sicher wären, und so schlugen sie eine Richtung zur Ortseinfahrt, wo ihrer Erinnerung nach einige Polizisten standen, den Verkehr regelten und wahrscheinlich die zuströmenden Besucher taxierten. Plötzlich traten ihnen - von rechts kommend - die drei Männer in den Weg. »Ich habe das ganz starke Gefühl, ich kenne sie«, sagte Pavel. »Sehr erfreut!«, hörte sich Peter, und er meinte, es könne nur ein Krächzen gewesen sein. »Nein, ich denke nicht. Ich kenne Sie nicht. Ich kann mich nicht erinnern, Sie zu kennen!« »Waren sie schon einmal in Linz?«, fragte Pavel lauernd. Peters Lüge: » Sicher schon als Tourist, aber das muss Jahre her sein.« »Kennen Sie vielleicht eine Melanie?« Es zog Peter beinahe die Füße weg, er hielt sich an Andreas Hand aufrecht und log - blutleer - wieder: »Nein, es tut mir leid, Ihnen nicht helfen zu können.«

»Na gut. Ich wünsche noch einen schönen Festtag!« Pavel intonierte süß drohend, drehte sich weg und zog mit seinen zwei Gefährten davon. Einer von denen meinte plötzlich: »Ich glaube, ich kenne den Mann aus der Vollzugsanstalt Garsten ...«

Peter wollte das Fest verlassen. Es bedurfte keinerlei Diskussion mit Andrea, die ihn auf der Nachhausefahrt nicht bedrängte. Sie konnte in angenehmer Weise schweigen, Peter fühlte sich einfach nur verstanden und getröstet. Er war nicht so weit, über sich erzählen zu können. Bei Andreas Hof angekommen, machte er ihr nach alter Schule die Autotür auf. Sie gab ihm einen Schmatz, österreichisch »ein Bussi«, direkt auf den Mund. Wünschte ihm eine Gute Nacht. Sie wäre jedenfalls da, wo Peter sie brauchen würde.

Auf seiner weiteren Heimreise ging Peter vieles durch den Kopf. Melanie war plötzlich wieder da, Andrea war auch da, der Teufel mit den fürchterlichen Händen war auch da. Irgendwie war der Teufel ein Gegenspieler, sein Gegenspieler, der Gegenspieler. Jetzt musste Peter nur mehr erkennen, in welchem Spiel, um welchen Einsatz. Er hatte jedenfalls Angst gehabt. Alles Mögliche konnte er sich vorstellen, Terror, körperliche Gewalt, aber keines der Bilder erschien ihm wahrscheinlich, real. Die einzige Peter als wirklich vorstellbare Sache waren die Hemmungslosigkeit, die Grenzenlosigkeit, die Radikalität, die er dem Teufel zuordnete. Durch sein Sinnieren, vielleicht auch durch die räumliche Entfernung, wurde er ruhiger, begann mit seinen Gedanken ein wenig zu spielen: Wenn der Teufel sein Gegner war, dann war ja er selber zwangsläufig der Gegenspieler des Teufels. Ausschlaggebend wäre in diesem Fall wohl das Kräfteverhältnis.

Peters Gedanken gingen sogar so weit, dass er seine Angst als Angst vor Unterlegenheit begreifen konnte, aber weiter kam er in dieser Nacht nicht mehr. Todmüde und gleichzeitig wild erregt ging er zu Bett. Der Teufel, Andrea, Melanie, der Bauernhof und alle möglichen Dämonen aus den uralten dunklen Granitklammen des Donautals im Strudengau zogen und zerrten durch die unruhige Nacht und wilde Träume hindurch an Peter. Schließlich tauchte da noch ein Kleinkind, ein Baby, auf, wie auf den Deckenmalereien einer barocken Wallfahrtskirche, wie ein Erlöser.

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