Nach einigen Hin- und Herreisen und Abenteuern kam sie nach Linz. Die Stadt erschien ihr groß, vielfältig und anonym genug, um dort ihre Lebenspläne umsetzen zu können. Es war das Jahr 1985. In der Sowjetunion war Michail Segejewitsch Gorbatschow Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion geworden. Dies warf seine weltpolitischen Schatten bereits voraus, was Melanie aber gar nicht interessierte. Wesentlicher war ihr, dass der Plan mit den Männerbekanntschaften nur schlecht funktionierte, bei Weitem nicht so erfolgreich, wie sie es sich ausgedacht hatte. Es waren einige garstige Erlebnisse dabei. Schließlich fiel die selbstständige Praktikantin der ortsansässigen Halbwelt auf und wurde »unter die Fittiche« genommen. Die Umstellung ihrer Lebensart verlief rasant und schmerzhaft, aber sie begriff schnell und »kooperierte.« Damit waren ja auch eine höhere physische Sicherheit und eine Art »Grundsicherung« verbunden. Ihre Freiheit, auch das Bild der zukünftigen Freiheit, wurden ganz klein.

Im Lauf der kommenden Jahre änderte sich das Leben von Melanie - aus ihrer Sicht die Welt - ganz grundlegend. Melanie wurde insofern erwachsen, als dass sie die Verantwortung für sich selber, ihre brutalen Grenzen und engen Möglichkeiten deutlich zu spüren begann. Sie lernte, damit umzugehen, sie wurde - vom Habitus her - eine Dame, weil es ihr gefiel. Der persönliche Stil und der Charakter hängen ja an der Person und nicht an der Umwelt. Dazu lernte sie unablässig. Sie lernte Lebensformen kennen, gesellschaftliche Maßstäbe des Stadtlebens, sie eignete sich eine gewisse Bildung an. Plötzlich interessierte sie, was ihr in der Schule immer lästige Pflicht gewesen war. Sie begann zu verstehen, wozu dieses Wissen im Leben notwendig sein konnte. Leider standen ihr keine Begleiterinnen oder Tutoren zur Verfügung, sodass sie sich ihr Wissen selbst herausdestillieren musste aus den Informationen und Medien, die ihr tagtäglich zukamen. Angesagte, aufgeblasene Informationen von der leichtsinnigen Oberfläche. In denen ist die Welt, so wie sie eben am Tag verspürt wird, ohne viel Vergangenheit, ohne beherzte Zukunft. Anstelle dessen weiß man über Scheidungen von Fernsehstars, Blähungen von Prinzessinnen und Orgien von Fußballstars bestens Bescheid, zum Teil wahrscheinlich ausgetüftlter als diese selber.

Sie lernte auch die Infrastrukturen der Stadt und die Technik kennen: Mobiltelefone oder Homecomputer waren - außer bei Geschäftsleuten und Nerds - noch nicht üblich, aber es wurden schon elektronische Uhren mit Leuchtziffern und innovativen Flüssigkristallanzeigen getragen. An den Bahn- und Straßenbahnhaltestellen gab es schon einfache Leuchtanzeigen, und im Fernsehen wurde laufend auf Elektronenrechner, Roboter und überlichtschnelle Raumschiffe Bezug genommen.

Sie lernte Menschen kennen:

Da waren ihre Kunden (oder Freier, oder wie sonst man sie nennen will). Unter denen gab es unterschiedlichste Typen, aus ihrer Sicht die annehmbaren und die erbärmlichen. Irgendwie schaffte sie es meistens, die Argen abzuwimmeln. Aber sie konnte auch einiges aushalten. Die Erwartungshaltungen ihrer Kunden - es waren auch Frauen, Pärchen, mehrere Männer darunter - waren sehr unterschiedlich, und deswegen schätzte sie es schon, »beschützt« zu werden, um ihre Dienstleistungen quasi »unter Kontrolle« zu haben. Das heißt nicht, dass sie sich nie gehen ließ, nie selbst auch ein wenig Vergnügen gehabt hätte. Aber etwas Besonderes, etwas, das neben ihrem Körper auch ihr Herz berührt hätte, ist nie passiert. Die meisten Kunden waren ihr ein wenig rätselhaft. Warum kamen ihre Freier, aus welchen Gründen, zu welchem tieferen Zweck? Und da war auch Nachdenken über sich selbst: wer sie denn sei, wo sie denn sei, wozu sie denn sei?

Ganz anders waren da ihre Zuhälter (oder Luden, oder wie sonst man sie nennen will). Unter denen war ihr kein einziger sympathisch; mit manchen hatte sie - »auf den zweiten Blick« - Mitleid: Die hatte nicht anders gekonnt, die waren in ihr Geschäft unvermeidlicher hineingerutscht als sie selber in das ihre.

Ihre Beschützer wechselten häufig. Manche von ihnen waren »Selbstständige«, die meisten aber schienen Mitarbeiter einer kleineren oder größeren Unterweltorganisation zu sein. Melanie konnte das immer nur anhand der Umgangsformen vermuten. In diesen Anfangsjahren in Linz hatte sie noch hauptsächlich mit einer österreichisch dominierten Halbwelt zu tun. Die Personalfluktuation war augenscheinlich. Die Werdegänge der wechselnden Mitarbeiter - es waren ausschließlich Männer - waren nicht nachverfolgbar, wahrscheinlich weniger auf Karrieren zurückzuführen als auf plötzliche und unerwartete körperliche Beschwerden oder hohe Bleiwerte im Kreislauf. Die meisten verschwanden einfach, spurlos und unauffindbar.

Zu Melanie selber waren die Zuhälter allenfalls beschränkt gewalttätig. Aufgrund ihrer Schönheit und Jugend war sie wertvolles Kapital, sollte nicht beschädigt werden. Wenn sie - das musste offenbar auch manchmal geschehen - geschlagen wurde, dann immer dort, wo keine Spuren bleiben: in den Bauch, in die Nieren. Melanie begriff rasch die Rituale, die hier gepflegt wurden, und verstand es zunehmend, die sich ankündigenden Eskalationen aufzufangen und umzulenken, die Männer auch gegeneinander auszuspielen, sie bei ihrer Ehre zu nehmen, sodass sie im Milieu halbwegs gut leben konnte. Das war aber noch lange kein gutes Leben, weil um ihre Freiheiten war es insgesamt nicht gut bestellt.;

Ekelhafter wurde die Situation nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Rasch begann die Unterwelt des ehemaligen Ostblocks nach Österreich zu drängen und als Mitbewerber die alteingesessenen österreichischen Strizzis zu bekämpfen. An allen Fronten, in allen Straßen, und in einer von denen wandelte auch Melanie auf dem Strich.

In Folge der sich damit rasch ändernden Umstände ging es der jungen Frau gar nicht gut. Ihre Beschützer wurden brutaler, weil das neuerdings so zu den Umgangsformen zu gehören schien. Es gab keine unterschwelligen Drohungen, sondern immer Kostproben körperlicher Sanktionen, wenn die Erwartungen des Luden nicht befriedigt werden konnten. Erwartet wurde ein immer höherer Ertrag, eigentlich wurde ein solcher erzwungen, herbeigeprügelt. Das war eine absolute Verschlimmerung von Melanies Lebensumständen.

Nachdem sie realisiert hatte, dass sie selbst allein sich nicht befreien, nicht helfen konnte, verfiel Melanie in einen lethargischen Trott. Sie trank zunehmend Alkohol. Die Erleichterung und Euphorie der ersten Räusche verflog wie ein Schmetterling im Sturm. Sie fühlte sich wie ein versotteter Ofen ohne Durchzug. Nie brennt die Flamme heftig, nie wird es warm, nie kann sich die Feuerstelle freibrennen. Das Mädchen begann, Zigaretten zu rauchen, und dazu hatte sie sich noch angewöhnt, verschiedene Pillen, die sie zu brauchen glaubte, in großen Mengen einzunehmen: frei erhältliche Vitamine, Spurenelemente, Schmerzmittel, im Milieu erhältliche Uppers und Downers. Niemand hätte je feststellen können, wie diese Mischung jeweils wirkte, weil sie nie nüchtern war, immer wie ferngesteuert herumschlurfte. Vom Damenhaften war bis auf die Bekleidung nichts geblieben, und selbst die hin gilbend an ihr herab. Der Zauber eines neuen Lebens, einer neuen Welt? Hatte es den je gegeben? Melanie konnte sich nicht mehr erinnern, sie versuchte es nicht einmal. Es war nur mehr eine große traurige müde, zähe Leere in ihr. Jeder, der sie kannte, dachte, wusste, dass ihr Lebenswandel nicht gesund sein könne, dass es ihr momentan nicht gutgehen könne. Viele interessierte das aber nicht, und die anderen, die hatten auch immer nur kurzes Mitleid. Melanie war noch jung, sie würde sich erholen. Die Sorgen verflogen rasch.

Melanie hatte sich die Losigkeits-Krankheit eingefangen.Symptome sind Glücklosigkeit, Freudlosigkeit, Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit Appetitlosigkeit, und alle schönen Geschehnisse, an die man -losigkeit dranhängen kann. Das Reizvolle an ihr war verwaschen, die Farben bleichten aus, was auch ihre »Manager« bemerkten, die sie zu verramschen begannen. Eine schlimme Zeit, eine grimmige Abwärtsspirale, die andauerte, bis dann, so um das Jahr 1992 herum, Melanie war gerade 25 Jahre alt geworden, ein junger Tschechoslowake auftauchte, Pavel Babich mit Namen, der sich besonders um sie bemühte. Pavel war ebenfalls »aus dem Milieu«, arrivierter schon. In Melanies Beisein versuchte er stets, sich gut zu benehmen.

Es dauerte einige Zeit, bevor Melanie begriff, dass sie nun unter dem unmittelbaren Schutz dieses Pavel stand. Er behandelte sie zuvorkommend, er umwarb sie, er verlangte keinen Sex von ihr. Es war wohltuend, es war entspannend. Sie erholte sich, sie begann sich, sicher zu fühlen, sie gab sich diesem Pavel hin. Sie zog zu ihm in seine teure Wohnung. Sie ließ sich von ihm ausführen, in Restaurants, Bars, einladen zu Urlaubsreisen. Pavel hatte immer schon gewusst, was er wollte. Er wusst es mit Melanie. Er wusste es, bevor er sie fragte, er wusste es, ohne sie zu fragen. Die Welt mit Pavel war eine luxuriöse Welt, aber es war Pavels Welt.

Melanie ging weiter anschaffen, jetzt nobler als »Escort-Girl.« Körperlich erholte sie sich gut, aber ihre Seele war alt geworden. Sie glaubte nicht mehr an eine schöne Zukunft, sie hoffte nicht mehr. Sie war superrealistisch und superpraktisch geworden. Die Welt ihrer Kunden hätte sie vielleicht interessiert. Immerhin betraf sie einen großen Teil ihres Lebens. Sie hielt Ausschau, durchaus mit neuen Ambitionen. Aber es waren lauter Pavels.

Und die Losigkeits-Krankheit heilte nicht ab, damals.

Peter Hofeggers Irrfahrten