Man kann die Magie in der Realität sehen wollen, dann wird man sie auch erkennen. Das ist dann ein schönes Gefühl, wenn wir uns Gutes erhoffen. Aber es gibt ja auch, so haben wir uns das zurechtgelegt, die dunkle - oder schwarze - Magie.

Es kann magisch erscheinen, wenn Augenblicke sich begegnen. Es kann magisch erscheinen, wenn ein Kind mit sechs Zehen am Fuß geboren wird und sich jemand an eine Prophezeiung erinnert. Es muss ja kein Menschlein mit gesamt 12 Zehen sein. Wenn man es erkennen kann, ist die Geburt jedes einzelnen Menschen, jedes Lebewesens Magie. Nicht nur, dass hier neues Leben, ein neues Ich, entsteht. Dieser Mensch tritt in das Leben anderer Menschen, gestaltet ein wenig die Welt. Jede, jeder ist wichtig, vielleicht, hoffentlich ganz besonders wichtig, für mich, für Dich, für irgendjemanden, für alle, für alles. Magisch!

So kommen Zauberer in die Welt und auch Feen. Für uns Menschen etwas Besonderes, eine Chance. Wahrscheinlich halten sich diese Wesen aber für nichts Besonderes in ihrer Zauber- und Feenwelt, wie auch wir uns für nichts Besonderes in unserer Menschenwelt halten, für nichts außergewöhnlich Besonderes, zumindest dann nicht, wenn wir uns gefunden haben. In den alten Geschichten sind diese Geschöpfe aber mit eigenartiger Mystik dargestellt: als zart und verletzlich wie ein Schmetterling, der nach Berührung den Feenstaub seiner Flügel verliert und sterben muss, als machtvoll, als ungreifbar leuchtend, als grenzenlos böse. Allegorisch beginnt eine neue Welt, nachdem die einzige Schwachstelle des Monsters gefunden und geschickt genutzt wurde, um das Böse aus der Welt zu bringen. Die Märchengestalt geht in ein glitzerndes Jenseits, nachdem sie uns errettet hat. So kann man ein Menschenleben auch zeichnen.

Es ist wirklich verwunderlich, wie Erinnerungen zu funktionieren scheinen. Lang hatte sie Bilder aus ihrer frühesten Kindheit im Kopf: Dass ihre Mutter sie auf dem Arm in die Speisekammer getragen hätte, ihr einen Kasperlkopf gezeigt hätte aus einer in halber Höhe geteilten Eistüte. Die dicke Hälfte war Sockel gewesen, auf dem ein Kopf, ein lachendes Gesicht aus Marzipan, ruhte, und obenauf war der Rest der Tüte als Kasperlmütze gesetzt worden. An dieses Bild erinnerte sie sich, meinte, es vor sich sehen zu können, auch dass auf einem Regal ein großes Glas gestanden wäre, in dem Eier in Natron-Wasserglas eingelegt waren, auch dass Würste von der Decke hingen. »Mein Mädchen« hatte ihr Vater sie genannt, aber das konnte auch später gewesen sein. Es hatte sie stolz gemacht, es war nur für sie gewesen. Sie hatte sich geliebt gefühlt.

Eine kleine blonde Prinzessin war sie gewesen, in einer Zauberwelt voller Feen, Einhörner, Prinzen und Ritter, zumindest sah ihre Kindheit in ihrer Jugend so aus. Sie hatte in einem wunderschönen Haus auf einer wunderschönen Wiese neben einem wunderschönen Wald gelebt, mit ihren Eltern, mit ihrer kleinen Schwester. Ihre kleine Susanne. Es war ihr unvorstellbar, es war unwirklich, dass Susi nicht mehr war. Die Trauer kroch über ihre Kehle in ihre Gesichtszüge. Die Trauer weitete sich aus: auch über ihr Schicksal, das Schicksal ihrer kleinen Tochter. Begonnen hatte diese Reihe von Schicksalsschlägen kurz vor ihrer Einschulung. Sie hatten ausziehen müssen aus dem schönen Haus auf der schönen Wiese neben dem Wald, umziehen in den herabgewirtschafteten, stinkenden Hoftrakt eines ehemaligen Bauernhofes weit über der Donau, in der Nähe von St. Thomas am Blasenstein. Das ist ein winziges Bergdorf hinter Bad Kreuzen im oberösterreichischen Mühlviertel, weit weg von der Hubeltrubelwelt. Menschliche Besucher kommen vorwiegend an den Wochenenden, um die Aussicht zu genießen, sich durch eine verdrehte Felsspalte zu zwängen um ihr Kreuzweh zu kurieren, und um die Mumie eines Pfarrers, »luftgeselcht« zu besichtigen.

Ihre Mutter hatte viel geweint, aber nicht um den verstorbenen Geistlichen, Susi hatte geweint, sie selber hatte wahrscheinlich auch geweint. Vater, ihr Vater, dessen Mädchen sie ja doch war, der hatte sie auch verlassen. Nein, das stimmte so nicht. Er kam schon vorbei, über die Wochenenden, doch rauh war er geworden, unnahbar, und er stank aus dem Mund. In den Nächten hörten sie, wie er mit Mutter stritt, und manchmal ging er auch weg, mitten in die Nacht hinein.

Wieder ein Erinnerungsbild: Sie mit ihren Freundinnen und Freunden am Waldrand, um ein Lagerfeuer. Mehr als Romantik. Es musste etwa ein Jahrzehnt später gewesen sein, 1982, 1983. Nena sang über 99 Luftballons, die Eurhythmics erkundeten süße Träume. Die Jugendlichen erzählten einander Geschichten, irgendwie kamen sie auch darauf, dass sie alle ja doch im oder um den »summer of love«, in der Blütezeit der Hippiebewegung, geboren waren. Melanie war besonders stolz, im Februar zur Welt gekommen zu sein, im Sternzeichen des Wassermanns, im Zeitalter des Wassermanns. Sie war auch stolz darauf, dass Sie so hieß wie Melanie Safka, eine Woodstock-Sängerin

Ein Junge hatte ihr damals besonders gefallen, ein großer, dünner, schüchterner, ernsthafter junger Mann, der zwar auch bei ihnen war, den die unbeholfenen bis groben Flirtereien, die zotigen Witzchen, die hier gemacht wurden, aber nicht zu erreichen schienen. Sie kannte seinen Vater: insgesamt eine Außenseiterfamilie, wie ihre auch. Aber das waren andere Außenseiter, nicht verarmt wie ihre Familie, sondern eher wie von einem anderen Stern. Sie hatte nicht den Eindruck, dass der junge Mann hochnäsig wäre, sich für etwas Besseres hielte. Er war einfach ... ein wenig anders. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie dann neben ihm gesessen hatte, mit mehr Glut in den Wangen, als das Lagerfeuer hatte. Was sie genau gesprochen hatten, das wusste sie nimmer, aber sie konnte sich schon noch erinnern, dass sie dann, auf dem Nachhauseweg, auch jetzt noch, glaubte, dass sie es gründlich verbockt hatte.

Das klingt jetzt alles fürchterlich klischeehaft, aber wir haben ja gar nicht so viele Wahlmöglichkeiten, wie wir gerne glauben wollen. Den Jungen hatte sie nicht erreichen können. Er war nicht ihr Zauberer gewesen. Und so ging sie zurück in ihre Welte, die wahrhaft nicht zauberhaft war.

Melanie Gschwendter war am 18.2.1967 unter dem Sternzeichen Wassermann in Österreich, im nordöstlichen Mühlviertel geboren worden. Gschwendtner hieß sie, weil ihre Mutter so hieß. Erst später in ihrem Leben begriff sie, dass ihre Eltern nie verheiratet gewesen waren. Das Leben war in ihrer Kindheit entbehrungsreicher als heute, aber dies ist wahrscheinlich eine Kategorisierung, die mann damals zurückgewiesen hätte. Man hatte nicht so viel Besitz wie heute, aber mehr Zukunftsglauben, Vertrauen, insbesondere in der Jugend. In Melanies Erinnerung war es eine gute Jugend, nicht nur eine gute Kasperlkopf-Eierglas-Dauerwurst-Verliebtheits-Jugend. Es gab, wenn sie suchte, viele schöne Erinnerungsbilder. Aber es gab auch den Großvater. diesen Schuft.

Tatsächlich war das Leben karg gewesen auf den Kleinbauernhof von Melanies Großeltern: Das Wasser musste vom Brunnen geholt werden, die Toilette war mehr oder weniger im Stall, ein Plumpsklo, das ebenso auf den Misthaufen entwässerte wie der Stall. Das Essen reichte gerade über das Verhungern hinaus, weil reich waren sie alle nicht am Hof: Die Mutter half in St. Thomas in der Schule, in der Kirche und im Dorfgasthof aus und bekam dafür allenfalls ein paar Schilling (die damalige Währung in Österreich, teilbar in 100 Groschen). Die Essensreste, Mehl, Zucker und Schmalz, die sie nach Hause brachte, waren zum Überleben notwendiger als das wenige Geld, das man vor Ort ja auch kaum ausgeben konnte.

Glücklich war sie nicht, Melanies Mutter, und sie sprach auch kaum, und wenn, dann flüsterte sie fast unverständlich vor sich hin. Verstehen konnte man sie nur im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Graden von Erregung und/oder im Zusammenhang mit dem jeweiligen Anlass. Sie starb im Jahr 1985, als Melanie gerade 18 Jahre alt geworden war.

Der Großvater, Kleinbauer, arbeitete nebenbei auch bei der Straßenmeisterei, wo er im Sommer mit Instandsetzungsarbeiten, das restliche Jahr über mit Schneeräumung, Splitstreuen, mit dem Aufstellen von Schneegittern und Begrenzungspfählen beschäftigt war, tageweise und je nach Anfall. Die Winter waren kalt, die Gegend liegt hoch, so um die 700 Meter, mit engen bewaldeten Tälern und Klammen. Der Altbauer hielt sich für schlau und hatte mit allerlei Spekulationen und Tricks reich zu werden versucht. Wahrscheinlich gab es viele Schlauere, an die er letztendlich das meiste seiner sowieso schon kleinen Landwirtschaft verloren hatte.

Aber er schien einen verhängnisvollen Hang zu großsprecherischen Betrügern zu haben, ließ sich auf Kirtagen, wahrscheinlich auch bei ernsthafteren Rechtsgeschäften, alles Mögliche aufschwatzen und einreden. Niemand außer ihm selber wusste von seinen Verstrickungen, wahrscheinlich hatte er selber auch keine Übersicht mehr. Er wusste und spürte nur, dass er zunehmend verarmt war. Deswegen war Melanies Großvater, der Schlaue, griesgrämig geworden, aufbrausend, ein Getriebener seiner Verfolgungswahnvorstellungen, selbst uneinsichtig und gnadenlos gegen alle vermeintlich schwächeren: Gegen seine Frau, an die sich Melanie nie anders erinnern konnte als an eine aus den Schatten des Hauses kurzzeitig herausfließende krächzende Hexengestalt, gegen Melanies Mutter, die unsägliche Angst vor ihrem Vater zu haben schien und sich stets wortlos, zitternd, mit nassen Augen unterwarf, gegen Melanie, aber das war eine andere Sache, eine grauenhafte, eine unauslöschliche Sache: Solang Melanie ein Baby war, wurde sie vom Großvater mehr oder weniger ignoriert. Vielleicht beschwerte er sich ja über das Kind, vielleicht machte er Vorhaltungen, beschimpfte Melanie, aber er wandte sich nie direkt an sie, sodass das Kleinkind zwar das Poltern bemerkte, die schlechte Stimmung. Melanie bemerkte auch, dass ihre weinende Mutter sie hinaustrug, in den Stall, in dem sie eine kleine kalte Kammer bewohnten, im Sommer zum Waldrand in ein Moosbett. Aber mehr war da nicht, nicht erinnerlich: Kein Drücken, kein Herzen, kein Trost.

Als Melanie dann älter wurde, kam sie auch kaum unter andere Kinder. Der Weg zum Kindergarten wäre zu beschwerlich gewesen, hätte die Mutter an ihrer Arbeit gehindert, teilte man ihr mit, und dass man sich das Kindergartengeld nicht leisten könne.

Eines Sommervormittags, so erinnerte sich Melanie, als die Fruchtfliegen in den Lichtstreifen, die durch die Fensterläden hereinfielen, zu tanzen begannen, eines feuchtheißen Vormittags im Sommer, hatte sie ihr Großvater, der in der Stube herumwerkelte, seltsam angesehen. Er hatte sie befehlend zu sich gerufen, ihr die Hand auf den Kopf gelegt, auf die mittelblonden, zu Zöpfen geflochtenen Haare, auf die Schulter. Dann hatte er ihren Hals umfasst, mit seiner rechten, riesenhaften, schwieligen, rissigen, stinkenden Hand, die Hand fest geschlossen. Als Zuseher hätte man meinen können, er hätte angesetzt, Melanie zu erwürgen. Diese Angst hatte das Mädchen nicht, weil sie noch nicht wusste, wie dieses Erwürgen aussehen könnte, wie anfühlen, welche Konsequenzen es hätte. Aber wohl fühlte sich Melanie nicht. Dann ließ der Alte von ihrem Hals ab, rutschte mit der Hand hinunter, in Höhe des Bauchnabels, und schob ihr die alte ausgewaschene Flanellbluse hoch, begrabschte sie mit seinen heißen, hartrissigen Händen am Bauch, am Rücken, zog ihr die rote Strumpfhose, die sie trug, über das Gesäß herunter, und bemusterte sie von vorn und hinten ausgiebig mit Augen und Händen. Melanie hielt erschrocken den Atem an, damals. Großvater sagte: »Ich muss nachsehen, ob Du gesund bist.« So oder so ähnlich sagte er, und er sagte auch, dass alles in Ordnung sei, dass er sehr zufrieden sei, dass sie sich nicht aufzuregen bräuchte, dass es niemand wissen müsse.

Melanies Großvater war also - auch er ist schon lange verstorben - ein »Kinderschänder«, was gemeinhin als eines der größten Verbrechen gilt, gleichzeitig aber auch tabuisiert ist. Man will da gar keine Einzelheiten wissen.

In Melanies Leben gab es aber Einzelheiten, die hier aber auch nicht en detail dargelegt werden sollen. Nach dieser Erstbegegnung machte sie sich schon wilde Gedanken, aber angesichts der ansonsten vorherrschenden wütenden Grimmigkeit des Großvaters war diese Begegnung ja bei Weitem nicht so gewalttätig-furchteinflößend gewesen wie im sonstigen Alltag. Letztendlich, so legte sie, das Kind, es sich zurecht, war ja nichts Arges passiert. Letztendlich war ja eine ganz neue Art Bindung zum Großvater entstanden, eine Bindung, von der nur sie beide etwas wussten, die sie intim verband. Irgendwie sollte sie ja auch Rechte ableiten können aus dieser Geheimverbindung. Sie schob das aber immer auf ein unbestimmtes Später auf, sie wusste letztendlich nicht, was da passierte.

Des Großvaters Annäherungen setzten sich fort, aber wir wissen nicht, in welchem Ausmaß. Melanie verhielt sich ruhig, sie sah sich von außen zu, sah hinein in eine unwirkliche, zähflüssige Welt ohne Hitzen und Spitzen. Natürlich wurde das Kind schwer traumatisiert, auch wenn man beim genauen Hinschauen durchaus noch Details auseinander klauben, begreifen kann. Wahrscheinlich entwickelte Melanie dissoziative Störungen, bei denen einzelne Bestandteile der Persönlichkeit, der Wahrnehmungen und Reaktionen quasi auseinanderfallen, nicht mehr zusammenpassen. Vielleicht hat man auch das Gefühl, man hätte sich aus seinem Körper gelöst und sähe sich von außen zu. Das mag ja beim Zahnarzt ganz nützlich sein, insbesondere bei Wurzelbehandlungen. Wenn man Melanies Leben im Rückblick vorbeiziehen lässt, dann könnte man schon auch glauben, dass sie nie wieder, allenfalls in einzelnen Augenblicken, in sich zurückfinden sollte. Niemand ging auf ihr Problem zu, sie ersuchte niemals um Hilfe. Sie blieb alleingelassen. Das ist ein schreckliches Schicksal.

Eines Tages, Sie mochte so um die zehn Jahre alt gewesen sein, gab es einen gewaltigen Streit auf dem Bauernhof. Seltsamerweise war es ein wunderschöner Tag, die Sonne schien, die Wälder und Wiesen dufteten saftig. Großvater und die Frauen schrien sich an, gingen körperlich aufeinander los. Später war Großmutter weggegangen, Melanie sah nie wieder ihren Schatten aus dem Dunkel des Hauses herausfließen. Wie sich im Verlauf der kommenden Zeit herausstellte, wusste auch sonst niemand, wohin sie gegangen war. Großvater wurde immer einsilbiger, Melanies Mutter zog ins Erdgeschoß, und die Stallkammer blieb Melanie alleine. Ihre Mutter nannte sie fortan - mit einem kecken, herausfordernden Unterton - »Melanze«, und ihr Großvater berührte sie nimmer.

Zu dieser Zeit hatte sich Melanie schon angewöhnt, vom Bier, auch vom Wein, sogar vom Schnaps zu kosten, wenig, aber sie genoss das heitere Hochgefühl, das sich nach ein paar Schlucken einstellte.

Sie zog auch ihre Runden, erfuhr dabei, nicht von ihrer Familie, dass sie zur Schule hätte gehen sollen, organisierte geschäftig ihr Leben und ging fortan auch ab und an zum Unterricht. Das war eine Glückszeit, auch wenn sie gehänselt wurde, weil sie ganz leicht schielte. Man sieht einen solch winzigen Weitwinkelblick nicht bewusst, zumindest nicht in ersten Augenblicken, aber man fühlt sich ganz eigenartig angesehen.

Dann konnte sie sich noch an irgendwelche Wichtigkeiten und Diskussionen mit einer »Fürsorge« erinnern, aber letztendlich ging dies alles an ihr vorbei, berührte sie nicht, weil sie war nicht greifbar für die ordnungsbedachten Instrumente dieser »Fürsorge.« Aber schlau war sie, und so lernte sie schnell, was wichtig war zum Leben.

Melanie zog ihre Runden, und sie traf sich auch mit anderen Jugendlichen, vorzugsweise mit etwas älteren, und sie war stolz, von ihnen akzeptiert zu werden. Man bemerkte sie, scherzte mit ihr, spielte mit ihr, verlangte Mutproben, um dazugehören zu dürfen, gab ihr Alkohol, so viel, dass sie mehrfach im Rausch das Bewusstsein verlor.

Um ihr zwölftes Lebensjahr herum dürfte sie in einem solchen Rausch vergewaltigt worden sein. Sie wusste über alles Bescheid: Über Sex, über das Kinderkriegen, über Vergewaltigungen, und deswegen wunderte sie sich, dass sie körperlich ziemlich unversehrt geblieben war. Der größte Schmerz beim Aufwachen kam vom Kater, der Rest war weitgehend unnötiger stinkender Schleim, vermischt mit Blut, zerrissene verdreckte Wäsche. Es war genau so wenig dramatisch wie Großvaters Grabschereien, befand sie, und brachte sich wieder in Ordnung. Keine Vorwürfe, keine Anzeigen.

Wissen wollte sie aber schon, wer sie vergewaltigt hatte. Sie erinnerte sich an die eigenartige Verbundenheit mit dem Großvater. Letztendlich fand sie es auch heraus: Es waren mehrere Burschen gewesen. Einen Einzelnen konnte sie also nicht an sich binden.

Es war noch viel ärger: Fortan galt sie in der Gegend als Hure, und aller möglichen Männer machten sich an sie heran, vergewaltigten sie, missbrauchten sie, demütigten sie und zerstörten ihren Ruf, weil »geile Huren« das ja so wollen.

Sie war wild, schrie, fluchte, trank, schlug sich mit Jungen und Mädchen. Sie hielt sich für wild und frei.