Informationen zum Theresienthal

Zum besseren Verständnis der Erzählungen, die vielleicht auch einmal in einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort gelesen werden, muss das augenblickliche Theresienthal doch ein wenig beschrieben werden, das Leben dort, die Menschen dort. Und da die Geschichten in dieser Gegenwart um die 2020er Jahre herum:

Das Theresienthal liegt im unbekannten und unerforschten Mittelpunkt von Mitteleuropa, in Österreich, in den nördlichen Voralpen, nahe der Donau, und ist altes Bauernland, altes Kulturland, Kernland in Österreich, das hier - angeblich - namentlich das erste Mal um das Jahr 995 als »Ostarrichi« genannt wurde.

Der Fluss im Tal beginnt als kleiner Bach in den Voralpen, wo die Gegend in der letzten Eiszeit hoch mit Gletschern bedeckt war. In diesem Zeitalter wurden die Kalksteinfelsen abgetragen, die scharfen Gipfel der Berge in Vielzahl gestutzt, die Täler wurden ausgeschliffen, der Kalk zerbrochen.

Das Theresienthal ist - aus der Sicht der Wissenschaften von der Erdkruste, auch wenn man seinen Namen altherthümlich schreibt - eine junge Landschaft, eine Gegend, in der keine vorgeschichtlichen Geister müde ausharren, die Menschen ins Unglück zu stürzen. Das Land jetzt ist so alt wie die Menschen, die die Wälder gerodet und die Felder und Weiden und Teiche und Wehren angelegt haben.

Im Quellgebiet finden sich als Überbleibsel der Vergletscherung Seen, es ist kalt zwischen Fichten, Farn und Pestwurz. Der Fluss hat sich seinen Lauf in verschieden breite Talböden gegraben, blumig flach, felsig tief, und kühlt das Land im Sommer wie auch im Winter. Forellen gibt es, Rotfedern, Weißfische, invasive Signalkrebse, aber auch noch die einheimischen Flusskrebse. Teilweise ist das Gerinne breit, mit Inseln voller Weiden, Pappeln und Schwemmholz. Dann schießt das Wasser wieder durch enge Kanäle schäumend zwischen den Felsen, und die Gämsen blicken von den Schrofen, die sich durch die Bäume strecken, herab. Es gibt etliche Wehren, Staubauwerke, Kanäle, weil man Eisen geschmiedet hat, Eisen vom Erzberg, zu Waffen, zu Pflugscharen, und so reich geworden ist, mancherorts. Im späten Herbst, im tiefen Winter, im frühen Frühling, liegen dicke Nebeldecken im Flusstal, und nur die Hügelspitzen lugen heraus wie Inseln. Jeder Hügel ein Kirchlein, jedes Kirchlein eine Geschichte, eine Sage.

Die Kelten waren da, dann das römische Imperium, die Markgrafen, Babenberger, Bayern, Habsburger, und ab der Zeitenwende immer auch die Kirche. Zwei Eroberungsversuche, bei denen das osmanische Reich über Europa hergefallen war, kamen nicht über das damalige Wien hinaus, und so blieb das Theresienthal christlich. Später dann hatten tausende Protestanten die Gegend verlassen müssen im Zug der Gegenreformation, die dem Land zwischen den vielen Kirchlein, Bildstöcken, Marterln, manche barockprächtige Wallfahrtskirche, manches Kloster eingebracht hat. So ist dieses vergessene Land nun absolutkatholisch, und es streiten hier unter der Herrschaft der immer gleichen konservativen und etwas klaustrophoben Machthabenden, die die vorgenannten Eigenschaften zumindest vorzeigen wie einen noblen Gehrock, nur Gott und der Teufel um die Seelen der Menschen. Denn wo ein Gott nahe ist, ist auch ein Teufel nicht fern. Doch die Geplänkel sind nicht wild, es gibt keine dröhnenden Schlachten, solang sich nichts ändert. Weder die Fehden der höheren Mächte, noch die Konflikte zwischen und in den Menschen werden laut, werden offenbar. Da mag schon manch einer, eine, daran zerbrochen sein, an dieser drögen Welt. Und doch ist dies nur die Ansicht von der einen Seite. Schön und gut - von der anderen Seite besehen - sind die Naturverbundenheit der Menschen, ihr nachhaltiger Lebenswandel, ihre jederzeit verbindliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft und die Blüten der Apfel- und Birnbäume auf den milden Hügelketten im Frühjahr, das satte Grün, der weite Blick, der riesige Wolkenhimmel und die Freiheit des Atems.

Auch wenn im Talgrund Gewerbe und Industrien, auch die Wohnsiedlungen, in den letzten Jahren kräftig gewachsen sind, verstehen sich die Einwohner noch in bäuerlich-ländlicher Tradition und tragen gern Dirndlkleider, Lederhosen und Trachtenanzüge, obwohl diese Bekleidungsstücke immer schon Mimikri waren, ihren traditionellen Charakter allenfalls aus den gegenwärtigen Wiederholungen ziehen. Und in vergleichbar gezogenen Bahnen bewegt sich auch die Denkweise der Menschen: Eine bestimmte Form, die für Ästhetik gehalten wird, eine fühlbare Langsamkeit, zu verstehen als leichte Trägheit, mittlere Sturheit, arges Patriarchentum. Alles zusammen wird hierzulande zwar bemerkt, aber als eine Art von Charakterstärke gesehen, bei der das Angenehme die Berechenbarkeit ist.

Jede Frage wird vorerst einmal damit beantwortet, dass alles in Ordnung sei, dass es einem gut gehe. Gleichzeitig wird auf die Politik, die Verwaltung, geschimpft, obwohl es einem doch gut geht. Und gewählt werden immer wieder die konservativen Parteien, als Folge ihrer Wahlprogramme: Gegen das Schlechte, für das Gute (wenn man sie eben lässt, wenn sie eben können, nichts anderes, Dringendes ansteht). Es ist schon merkwürdig, wie man einen Anschein aufrecht erhalten kann, gleichzeitig zu regieren und Opposition zu sein. Aber das gehört auch zum Wesen der Menschen im Theresienthal, das Machen und das Lassen.

Auf den beginnenden Hängen liegen Bauerngüter mit typischen Vierkanthöfen, die Hörndl- und Körndlwirtschaft betreiben, durchaus modern, durchaus industriell, und weiter in die Berge hinein dominiert dann die Mutterkuhhaltung und Milchwirtschaft, zum Teil gibt es auch Schafe, neuerdings auch Lamas, Alpakas und sogar Kamele. Zwischen den Weilern, Dörfern, Märkten, Ortschaften ziehen sich weite Strecken ohne Bebauung hin, ganz anders als am Talgrund, ganz anders als in anderen Tälern, auch in benachbarten. Und ein weiterer lebenswerter Umstand ist der fehlende Massentourismus, der sich lieber auf angeblich sensationelle(re) Landschaften konzentriert. Das Theresienthal erscheint zu selbstverständlich, aber allenfalls den Einheimischen, die die Ruhe dieser Weltengegend wahrscheinlich gar nicht bemerken.

Das moderne Leben mit seinen Themen, Aufregern und technischen Gimmicks hat auch hier Einzug gehalten, im Theresienthal, sodass quasi zwei Welten nebeneinander zu existieren scheinen: Die alte, traditionelle, auf die man sich in seinem Selbstverständnis gerne beruft, auch, um von Veränderungen verschont zu bleiben, und die neue, moderne, die Angst macht, auf die man sich aber auch gerne beruft, um als Geschäftspartner was herzumachen. Und diese moderne Welt, die wird gerade zu einer Angstwelt, in der es Ängstliche gibt, aber auch Angstbeisser, und natürlich auch welche, die von den Ängsten der Menschen profitieren oder diese Ängste benutzen, sogar säen und verstärken, um dadurch Macht zu erlangen. Keine guten Zeiten.

Wenn man aus der großen Stadt kommt, wenn man es zulässt, dann ist das Leben am Land viel direkter, unmittelbarer als dort. Es gibt zwar weniger Nachbarn, aber man redet mit ihnen. Es ist nahezu unumgänglich, mit ihnen zu reden, weil sie zu sichtbar sind, um ihnen ausweichen zu können unter Berufung auf die große Menge. Man kann nicht durch die Ortschaft gehen, ohne den Entgegenkommenden ins Gesicht zu schauen und zu grüßen, egal mit welchen Gefühlen das auch passiert. Nichtgrüßen läge nahe an einer Kriegserklärung, und es bliebe einem nicht erspart, in der Folge eine Ehrenerklärung abzugeben, nicht nur dem Ignorierten, sondern einem weiteren Personenkreis gegenüber, weil hier viel beredet wird. Oder man führt diesen Krieg eben, dann aber gnadenlos!

Man lebt hier direkter, brutaler, auch wenn es doch immer gut geht.«Ja: Auch in der Stadt hört man vom Unglück oder Tod von Bekannten. Hier erlebt man das Schicksal der Nachbarn zum Sterben hin, aber auch, wie sehr das im Dorf als natürlich hingenommen wird; es ist nicht so abstrakt und wird nicht gleichzeitig als unfassbar verdrängt wie in der großen Stadt, es ist nur ein Teil der Unmittelbarkeit des Landlebens. Tragödien betreffen immer nur einzelne Menschen, die anderen, die Dörfer insgesamt ändern sich - angeblich und deshalb so gefühlt - nur langsam. Die entsprechenden Ängste sind deswegen klein. Das Böse kommt immer von außerhalb. Die Geschichten, die man hier hört, erzählen es so. Und später dann, da vergisst man die alten Geschichten und erzählt sich neue, in denen das Böse von außerhalb kommt.

Manche hier leben hauptsächlich in der Menschenwelt, unter Brüdern und Schwestern, Konkurrenten und Feinden, andere wiederum sehen sich als Teil eines insgesamten Seins. Bei der weitaus überwiegenden Anzahl der Einwohner spielen die letztendlich immer gleichen sozialen Bindungs- und Trennungsfaktoren eine Rolle: Besitz, Status, Begehren, Geilheit, Neid, Eitelkeit, Furcht, Angst, Zorn, Hass, was immer es da auch gibt, in welcher Konstellation und Mischform auch immer. Ortsspezifisch sind allenfalls die Maßstäbe und die Verfügbarkeit der Zutaten, seien es jetzt materielle - zum Beispiel die hiesigen Grundstückspreise - oder moralische - die jeweils lokale Interpretation von Respekt, die örtliche Vereinshierarchie.

Es braucht aber ein wenig Geduld, in die Seelen der Einheimischen eingelassen zu werden. Sie haben eine harte, blickdichte, langweilige Schale, die Theresienthaler. Land und Leute haben aber auch viele wunderbare Seiten. Aus einigem Sicherheitsabstand, da liebe ich sie alle, die Talbewohner. Ich bemerke ihre Liebe, mit der sie ihre Welt und ihre menschlichen Beziehungen gestalten wollen. Ich sehe ihre Hoffnungen, dass sich alles ausgehen möge für sie und ihre Lieben, ihren Glauben an höhere Mächte und ausgleichende Gerechtigkeiten. Ich habe Verständnis für ihre Ansichten, ihr einfaches Wissen, das Grundlage dieser Ansichten sein dürfte. Ich verzeihe ihnen ihre Wut, denn ich kenne ihre Angst. Ich bin einer von ihnen, so wie sie, mitgefangen, mitgehangen.

Das Theresienthal ist nicht nur ein Ort. Es ist eine Gegend, ein Geruch, das Gefühl, die sanften Hügel, die Wiesen mit ihren Butterblumen, dem jauchegedüngten Löwenzahn, dem wilden Thymian, der auch Quendel heißt, den Lupinen, die hingestreuten Felder, die Waldflecken mit den Haselnuss- und Hollerstauden am Sonnenrand, die blühenden Birnbäume, der Duft des frischen Heus und des Kuhdungs.

Die Gegend, das sind auch die Menschen, die man kennt, mit ihren Weltanschauungen und Gefühlen, das sind Geschehnisse, Erinnerungen, Hoffnungen. Dort, wo man lebt.