Pavels Kumpane spielen Peter einen Streich

Die Zeit vergeht, und die Dinge ändern sich, und sie müssen sich auch ändern, damit sie bleiben können, wie sie sind, heißt es elysisch in Roman „Der Leopard“ über Dien Niedergang einer sizilianischen Adelsfamilie. Der Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat in diesem, seinem einzigen Roman den Niedergang seiner Familie beschrieben, mit einiger Wehmut.

Man kann die Dinge auch anders sehen, doch jede Sehweise ist nur eine Brille, ein Vergrößerungsglas, die uns helfen, die Dinge für unsere jeweiligen Absichten gut zu sehen.

Die Thermodynamik war ursprünglich eine Wissenschaft von den Dampfmaschinen. Jetzt befasst sie sich mit der Energie und ihren Eigenschaften im weiteren Sinn, weil man bald erkannte, dass die Wärme und der Dampfdruck in den Maschinen ja nicht sind als Energie, die ineinander umgewandelt wurde, letztendlich in die Bewegungsenergie der Lokomotiven und Züge. Seit Einstein wissen wir auch. Dass Energie und Masse ineinander umgewandelt werden können, und, wie so oft, hat Menschheit unter Bezug auf dieses Prinzip gleich einmal Atombomben gebaut. Die wissenschaftlichen Forschungen sind weiter gegangen: Mittlerweile fragt man sich dort, ob Energie, Masse, die Lichtgeschwindigkeit – und damit Raum und Zeit – überhaupt Grundgrößen unserer Welt sind. Das ist in unserem alltäglichen Leben kaum vorstellbar, es ist aber auch nicht von Belang. In meinem näheren, alltäglichen Leben ist die Erde flach. Im Hinblick auf größere Strecken und Entfernungen gilt das aber nicht mehr, und die Erdkugel sieht auch nicht mehr flach aus. Und bei der Energie schauen wir allenfalls auf den Stromzähler oder die Tankuhr, und bis auf die Kosten interessiert uns da wenig. Obwohl man sich mit der Thermodynamik schon ein wenig auskennen sollte, weil man dadurch erhebliche Erkenntnisse und Vorteile erlangen kann.

Es gibt da zwei wesentliche Regeln.

Die erste besagt, dass Energie (in einem abgeschlossenen System – nicht entstehen oder vergehen, sondern nur ineinander umgewandelt werden kann. So kann elektrische Energie in beispielsweise Licht und Wärme umgewandelt werden, wobei die G>Glühbirnen mehr Wärme als Licht, moderne LEDs viel mehr Licht als Wärme erzeugen. Die Wärme wiederum kann in Motoren in Bewegungsenergie verwandelt, mit der man auf einen Berg fahren kann und damit – der Schwerkraft wegen – statische Energie ansammelt, sodass das Auto dann ohne eigenen Antrieb den Berg herunterrollt und damit Bewegungsenergie ansammelt. Hoffentlich gehen die Bremsen, die übrigens die Bewegungsenergie wieder in Wärme verwandeln, weil sonst könnten wir in einen Baum krachen, und die nicht umgewandelte Bewegungsenergie würde das Blech unserer Fahrzeugkarosserie arg verwandeln.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik formuliert nur, in welcher Richtung sich Energie „bewegt“. Wenn sie eine Tasse heißen Tees auf den Tisch stellen, dann wird der Tee auskühlen, weil seine Wärmeenergie sich in die Umgebung, in der es weniger Wärmeenergie gibt, verabschiedet. Umgekehrt wird es kaum passieren, dass der Tee sich selbstständig im Häferl erwärmt. Und dafür lassen sich unendliche Beispiele finden.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist es interessant, dass dieses Verhalten, es wird „Entropie“ genannt, keine Gesetzmäßigkeit ist, sondern nur mit einer äußerst hohen Wahrscheinlichkeit in dieser Richtung, von heiß nach kalt, von dicht zu entspannt, von zusammengepresst nach ausgedehnt hin, stattfindet. Umgekehrtes wird in absehbarer Zukunft kaum stattfinden, wenn man nicht von außen Energie einbringt. Und dieses Verhalten hat möglicherweise auch mit der Zeit zu tun, oder es ist der Grund, warum die Zeit verstreicht, hinter uns die Vergangenheit, vor uns die Zukunft. Wenn wir in die Vergangenheit gingen, wäre der erkaltete Tee wieder heiß, oder man kann auch formulieren: Wenn der scheinbar von sich aus Tee wieder heiß wird, muss sich die Richtung der Zeit gedreht haben.

In dieser wissenschaftlichen Formulierung wird die Thermodynamik in unserem Alltagsleben nicht gebraucht, aber dass wir zum Kochen und Einheizen Energie brauchen, das sollten wir schon berücksichtigen, und dass die Wärmeenergie durch ein offenes Fenster rascher entfleucht als bei guter Gebäudeabdichtung und -dämmung lehrt uns die Jahresabrechnung.

Als Peter an einem Oktobernachmittag wieder einmal Richtung des Donautalabschnittes „Strudengau“ fuhr, gingen ihm solche Gedanken durch den Kopf, vielleicht auch, weil sein altes Auto schlecht heizte, undicht war. Er fröstelte und fühlte sich ganz und gar gegenwärtig. Physik hatte ihn interessiert in der Schule, aber seine Lehrer waren nicht gut gewesen, hatten ihm die Lust genommen. Für seinen Vater waren seine Schwärmereien sowieso nur Unsinn gewesen, und seine Mutter hatte ja kaum eine eigene Meinung gehabt, er konnte sich an keinen dementsprechenden Moment erinnern.

Vielleicht hatte ihn das dauernde Drängen aus seinem Umfeld auf die Idee gebracht, rasch reich werden zu wollen. Vielleicht war es eher ein Wunsch gewesen, rasch frei zu sein? Er hatte sich viel leisten können, viel angeschafft, „aufgehalst“ viel ihm jetzt spontan ein. Frei war er nicht gewesen, schon gar nicht unbeschwert. Aus jetziger Sicht war er nur angstgetrieben gewesen, gehetzt. Was hätten all die kleinen und großen, meist teuren Geschenke, die er sich selber machte, schon bedeutet. Irgendwie fühlte er sich besser jetzt. Was Freiheit für ihn persönlich bedeutete, das konnte er nicht formulieren. Er dachte nur, dass er niemandem verpflichtet wäre, dass es keinen Menschen auf der Welt gäbe, der sich irgendwie besonders um ihn gesorgt hätte.

Pavel kannte den Begriff „Thermodynamik“ nicht. Wissenschaft und Technik – mit Ausnahmen von Waffen und Autos – interessierten nicht, die gab es, die waren da, hatten für ihn da zu sein und wurden genau so wenig beachtet, wie alle Menschen und Dinge, die einfach da waren und für ihn da zu sein hatten.

Pavel interessierte sich für Menschen, die er dominieren wollte, um mit Ihnen an Macht und Geld zu kommen, die er besitzen wollte.

Melanie hatte ihm gefallen, die wollte er besitzen. Er hatte an einen üblichen One-Nite-Stand gedacht, an eine Erziehung zur Nutte. Aber irgendwie war er nie herangekommen an Melanie. Oh ja, er hatte mit ihr geschlafen, aber er war nur geduldet gewesen. Sie hatte alles gemacht, was er von ihr gewollt hatte, aber es war irgendwie so nebenbei gewesen, ein Brosamen, ein abgelegtes Ding, ein Nebenbei. Das hatte ihn wild gemacht. Es hatte ihn wütend gemacht, eine echte, unbeherrschbare Wut, nicht der Zorn, den er so gern spielte. Doch seine Wut, die war erstarrt vor Melanie. Das machte ihn noch mehr wütend, wenn er gegangen war, weg von ihr.

Melanie war weg, lange schon. Es machte ihn wütend, und er lebte diese Wut hinaus in die ganze Welt, zu seinen Feinden hin und innerhalb seines Clans. Pavel hatte zwei Leibwächter, Kettenhunde, wie immer man solche Personen kategorisieren mag. Die hatten auch keine Ahnung von Thermodynamik und auch keine Ahnung von Menschen. Aber sie hielten Pavel für eine große Nummer, vielleicht wegen seiner Wut, und wollten in Pavels Schatten ihr Leben führen, sicher ohne genaue Vorstellungen, was sie sich eigentlich erwarteten. Insgesamt wussten die beiden nicht viel, und das war ganz passend, weil mit vielem Wissen hätten sie auch nichts anfangen können.

Sie wussten aber, dass Pavel Melanie suchte, und suchten sie in dessen Auftrag, just an einem Oktobertag in Bad Kreuzen. Sie wussten auch, wer Peter war, und sahen ihn aus einem alten Wagen steigen. Und in der dumpfen Ahnung, dass sie ihrem Chef damit vielleicht einen Gefallen tun könnten, manipulierten Sie an den Bremsentlüftungsschrauben der Hinterachse von Peters Wagen herum. Dann warteten sie.

Als Peter eine knappe Stunde später wieder losfuhr, folgten sie ihm mit einigen Abstand. Die beiden Fahrzeuge waren die einzigen auf der Wegstrecke.



Peter wusste nicht genau, was er wollte an dem rasch hereinbrechenden Abend, besuchte in St. Thomas Melanies Grab und bekam ein wenig Angst, weil er sich kaum mehr an seine Liebe erinnern konnte. Dann fuhr er zum Kirchenwirt in Bad Kreuzen, bestellte sich dort ein frugales Abendessen, Röstkartoffel mit grünem Salat, ein Soda-Zitrone, und sah Andrea wie einen Eindringling. Er konnte nicht aus sich heraus, und dementsprechend rasch und wortlos fuhr er wieder, hinein in die schwarze Nacht.

Der alte Wagen lief in der Kälte nicht gut, spuckte ein wenig kraftlos, glitt sehr weich und verstolpert die steile Bergstraße zum Donauufer herab. Auch die Bremsen griffen zäh und schwach. Peter inspizierte im Gedanken seinen Wagen und dessen Schwachstellen, überlegte, wo er vielleicht reparieren würde müssen.

Das Auto wurde flotter, Peter trat aufs Bremspedal, bis zur Bodenplatte, doch das Auto wurde kaum langsamer, schien noch schneller zu werden. Die Handbremse! Angesichts der herannahenden Haarnadelkurve zu wenig Bremswirkung. Zum Herabschalten hatte er weder die Zeit noch eine Hand frei. Da er glücklicherweise nicht allzu schnell unterwegs gewesen war, das Bankett zum Hang auf der rechten Fahrbahnseite im Scheinwerferlicht glatt erschien, lenkte er das Fahrzeug an den Straßenrand, mit der Beifahrerseite in flachem Winkel in den Hang. Es rumpelte mehr ,als er erwartet hatte, ein wilder Schlag gegen das Fahrzeug, dann kam er zum Stehen, selber unverletzt.

Nach dem Aussteigen bewertete er die Schäden: Rechts war nur die Karosserie beschädigt, der rechte Außenspiegel mit gebrochenem Scharnier abgeknickt. Aber unerwartet war auch die Stoßstange vorne eingedrückt, auch der Kühlergrill. Peter stapfte zum Auto zurück, um die Motorhaubenentriegelung zu ziehen. Da sah er die Scheinwerfer eines Autos, aus Bad Kreuzen kommend, herannahen. Das zweite Fahrzeug wurde langsamer, hielt etwa zehn Meter hinter Peters Wagen mit laufendem Motor an. Da niemand ausstieg, ging Peter in Richtung der Scheinwerfer los. Der zweite Wagen wurde plötzlich in Fahrt gesetzt, lenkte an Peter vorbei und rauschte mit flotter Beschleunigung ins Donautal hinab.

Ohne Hilfe, ohne Licht, konnte Peter den Schaden an seinem Auto nicht näher diagnostizieren. Die Motorhaube ließ sich zwar entriegeln, aber selbst mit einiger Kraftanwendung nicht öffnen. Er konnte nur hoffen, dass Motor und Kühler keinen wesentlichen Schaden genommen hatte. Zumindest der Kühlerthermostat zeigte keinen entsprechenden Schaden an. Aber die Bremsen waren hinüber.

Er wusste nicht, warum, aber zurück nach Bad Kreuzen wollte er nicht mehr. Ganz langsam, im zweiten, ersten Gang, fuhr er ins Donautal, nach Grein, besichtigte im Licht der Straßenbeleuchtung nochmals seinen Wagen, der weniger beschädigt zu sein schien, als er im Dunkeln vermutet hatte. Mit einiger Zuversicht fuhr er heim, Richtung Theresienthal, aber nach einigem Überlegen während der langsamen Fahrt nicht zu seinem Bauernhof, sondern zu seiner Firma. Dort wusste er in der Nähe einen Autoersatzteilhändler. Vielleicht konnte er in der Ruhe seiner Arbeitstage das Gefährt richten.

Er parkte den Wagen auf dem Firmenparkplatz, disponierte um, stellte ihn in die Lagerhalle, wobei er erfreut feststellte, dass er im Bereich der Motorhaube keine Flüssigkeit verlor. Nur an der Hinterachse fand er einige Tropfen Bremsfüßigkeit am alten Beton.

Wir sind wieder bei der Thermodynamik:

Die Bewegungsenergie eines Kraftfahrzeugs wird aus der chemisch gebundenen Energie des Treibstoffs erzeugt, eigentlich umgewandelt, aber mit sehr schlechtem Wirkungsgrad, irgendwo weichen 30 und 40 Prozent. „Verbraucht“, aber tatsächlich wieder nur umgewandelt, wird sie bei gleichmäßiger Fahrt in der Ebene durch verschiedene Reibungen, der Lager, der Reifen, die sich dabei erwärmen, und den Luftwiderstand. Die Luft muss vom Auto verdrängt werden, wird an der Front zur Seite verdrängt, und erwärmt sich dabei auch ein wenig.

Wenn man schnell stehen bleiben will, steigt man auf die Bremse. Mittels eines hydraulischen Übersetzungssystems und einiger technischer Hilfsmittel wird die Bremskraft, mit der das Bremspedal betätigt wurde, verstärkt und drückt Zangen mit Bremsbelägen zusammen, die dabei Bremsscheiben klemmen, die sich mit allen vier Fahrzeugrädern drehen. Hier wird die Bewegungsenergie deutlich fühlbar in Wärme verwandelt. Wenn die Bremsscheiben zu heiß werden, kann es sein, dass die Bremsbeläge an den Bremszangen verglasen und kaum mehr bremsen.

Das war aber mit Peters Wagen nicht passiert. Dazu war er zu langsam gefahren, hatte viel zu wenig gebremst. Es musste wohl ein anderer Defekt am Bremssystem vorliegen. Die Bremsflüssigkeitstropfen hatten ihm schon eine Spur gezeigt, es musste einen Defekt am Hydrauliksystem geben.

Peter wusste auch, dass dieses Hydrauliksystem aus Sicherheitsgründen doppelt ausgeführt war, ein Versagen, wie er es erlebt hatte, in der Regel also nicht hätte auftreten dürfen. Eine kurze Inspektion in der Halle zeigte auch, dass die Entlüftungsventile der Bremssysteme sowohl am linken wie auch am rechten Hinterrad nässten und an ihren jeweiligen Sechskantmuttern frische Spuren zeigten, wie sie bei Klemmung mit einer Zange entstehen.

Ein Anschlag!

Peter kletterte in den Keller hinab, hinab in Melanies Zuflucht, hinab in sein vorheriges Leben. Die Tür vom Lager in den Zubau versperrte er mit seinen Schlüsseln. Und obwohl er sich ordentlich zudeckte, konnte er schlecht einschlafen, wachte unangenehm auf.

Er rief seine Quartiergeber an, erzählte eine plausible harmlose Lüge über sein Fernbleiben, begann sein Auto zu inspizieren, machte eine Einkaufsliste, besorgte auch Essen und Trinken, und begann zu reparieren, wobei er das Geschäft versperrt ließ und immer wieder Nachschau hielt, ob nicht jemand gekommen wäre oder herumspionierte.

Zwei ganze Tage brauchte er, um das Auto wieder fahrfähig zu bekommen, die Spuren an der Karosserie und Stoßstange bleiben aber deutlich sichtbar. Den Spiegel hatte er mit Kraftklebeband an der Oberkante der Seitenscheibe befestigt. Jeder Polizist würde ihn aufhalten, und Peter hatte sich bereits mehrere Geschichten zurechtgelegt, die er zu den Schäden erzählen wollte.

Gerade als er alles zurechtrichtrichtete, um abzusperren und nach Hause zu fahren, hörte er vorn im Geschäft ein Klopfen. Als er vorsichtig aus der spaltbreit geöffneten Verbindungstür schaute, sah er drei Männer vor der Eingangstür stehen, wild aussehende Männer. Er hatte kein gutes Gefühl, Angst. Als die Männer der Geschäftsfassade entlang weggingen, dachte er, sie würden wohl einen Hintereingang suchen, lief schnell zum Schiebetor des Lagers, ob dieses verschlossen sei, die Gehtüre versperrt, und wartete gespannt im Bereich der Verbindungstür. Einer der Männer war zum Geschäftseingang zurückgekehrt, sie suchten ihn tatsächlich, sie würden sich auch nicht aufhalten lassen.

In seiner Panik flüchtete Peter zu den Technikräumen im Lager, von dort in den Keller, das Versteck, wobei er Türen und Falltür nur zuziehen konnte. Aber wenigstens hätte er dort einen Fluchttunnel.

Tatsächlich hörte er kurz darauf, dass die Tür geöffnet wurde. Irgendwie mussten sich die Männer Zutritt in die Halle verschafft haben. Wer waren sie? Was wollten sie von ihm? Alles in Peter war angespannt, verspannt, seltsamerweise jetzt schmerzfrei, angstlos. Ein Herumtapsen über ihm. Ihm viel plötzlich auf, wie warm ihm war, Aufregung, es roch auch seltsam, es war zeitlos, warm, hochkonzentriert, wie mit Melanie. Er meinte sie zu riechen, das war ihr Duft.

Die Schritte entfernten sich.

Peter robbte durch den Tunnel zum Bahndamm. Es hätte ja sein können, dass ihm die Männer auflauerten. Kein Auto am Parkplatz. Er wartete im Gestrüpp am Bahndamm. Er wartete eine Stunde: Nichts! Dann schlich er an die Firmenhalle heran, umkreiste sie. Nichts! Ins Lager, ins Geschäft, in die Technikräume: Nichts!

Er untersuchte seinen Wagen von außen, von unten, innen, Motorhaube, Kofferraum: Nichts! Trotzdem hatte er ein mulmiges Gefühl, als er startete: Nichts!

Er ließ den Motor aber doch eine ganze Weile laufen, es stank schon arg in der Halle, bevor er langsam aus dem Gebäude setzte.

Im Dunklen fuhr er zu den Bauersleuten. Angespannt vom Tag, angespannt wegen der Schäden am Wagen. Aufgehalten wurde er von niemandem.

Die Führung eines landwirtschaftlichen Betriebs erfordert vielschichtige Fähigkeiten. Geschichtswissenschaften oder vertiefte Kenntnisse in Germanistik gehören nicht dazu, aber Rechnen muss man durchaus können. Man braucht auch biologische, chemische, physikalische Grundkenntnisse. Muss Maschinen bedienen, warten und reparieren können, neuerdings auch Computer und Steuerungsgeräte, und ein bisserl was zusammenzimmern sollte auch möglich sein – und haltbar. Es ist eine andere Art zu leben, eine erfüllende, eine freie, obwohl so frei ist sie dann nicht, wenn man die Bindung an den Hof berücksichtigt: Je nach Art der Wirtschaft ist es schwierig, Urlaube, wie diese allgemein gesehen werden, zu machen.

Das bäuerliche Leben nimmt oft rund um die Uhr, die ganze Woche, große Teile vom Jahr, in Anspruch, und es bleibt wenig Platz für Verhaltensweisen, die nicht zweckgebunden notwendig sind, zum Beispiel für die Liebe. Die ist meist nur ein kleiner glühender Kern ganz tief im Inneren. Zu spüren ist eher die Kälte, wenn die Glut verlischt oder gelöscht wird.

Josef war, noch ein Kind, 1977 an Tollwut gestorben, und seitdem hatte sein Vater, der Bauer Hans, auch ziemlich klare Meinungen über Medizin, Freundschaften, Machtverhältnissen und „Respektpersonen“, wie sie in ländlichen Dörfern noch bekannt und „in Gebrauch“ sind. Mit seiner Frau Rosina zog er sich tiefer und tiefer in sein Hausleben zurück, viele seiner Gründe verpachtete er, und sein Bauernleben beschränkte sich auf vier Milchkühe, ein Paar Ziegen, Hühner, Enten, einige Katzen, die Gründe, die er für diese Tiere brauchte, und einen von Rosina liebevoll gepflegten Haus- und Kräutergarten.

Hans und Rosina schotteten zogen sich so vollständig zurück, schotteten ihr Leben so sehr gegen Einflüsse der Menschen aus dem Dorf ab, dass man dort mittlerweile von ihnen erzählte wie von Märchenwesen. Kinder getrauten sich nicht in die Nähe des „verwunschenen“ Hofes. Dabei waren die Bauersleute zeitlebens gute Menschen gewesen, im Sinn der ihnen zugänglichen Wertsysteme, somit auch nach Maßstäben der Bedortigen Bevölkerung. Aber man kannte sie nimmer.

Alle Geschichten, die über die beiden erzählt wurden, handelten von den beiden gemeinsam, wie wenn sie zusammengewachsen wären, mit einem Kopf dächten, mit einem Herz fühlten. Und das war auch so: Da die beiden kaum jemanden anzusprechen hatten, da sie so gesund und geschickt waren, auch kaum jemanden ansprechen zu müssen, sprachen sie hauptsächlich miteinander. Sie mussten nicht viel sprechen, sie wussten meist, was der andere dachte, wollte. In dieser Zeit ging es meist um den Tagesablauf, um die Notwendigkeiten der Landarbeit: Viehfütterung, Weide, Wald, Feld, Garten ....

Es war gewohntes Denken, Denken in bekannten Bahnen, Denken im Vertrauen aufeinander. Eigentlich war es kein Denken, wie auch ein geübter Autofahrer üblicherweise nicht über die Handhabung seines Gefährts nachdenken muss. Und über den Lauf der Welt zerbrachen sich beide nicht den Kopf:

Nicht, weil sie beide das bewusst abgelehnt hätten. Seit dem Tod Josefs, seit ihrer Verzweiflung über diesen ihnen nicht verständlichen Sinn, seit dem Zorn über die Kaltherzigkeit der Mitmenschen, selbst des Pfarrers, wollten sie nicht mehr nachfragen über, nicht mehr glauben an irgendeinen Sinn. Es war kein expliziter Gedanke, kein Entschluss, das nicht mehr zu wollen. Es war eher ein Gefühl, ein unangenehmes Gefühl, so wie die Kehle sperrt, wenn man vor Ekel erbrechen möchte.

Rosina und Hans, Hans und Rosina, beide eins und sich gleich und Spiegel, erfassten überhaupt die meisten neuen, ungewohnten Sachverhalte, über Gefühle. Über Freude über Geschenke der Natur, Regen zur rechten Zeit, Sonne, um das Heu einzufahren, über Kälber, über die Apfel- und Birnbaumblüte, über frisches Gemüse, über ängstliche Vorsicht bei unbekanntem Neuen, über Abweisung bei Ungewolltem.

Diese Mechanismen wirkten auch, als Peter zum Hof kam. Ein Wagen näherte sich unüberhörbar. Das Kraftfahrzeug klang schon alt, schepperte, nagelte und hielt seitlich neben dem Vierkanthof, auf der Seite der Umfahrung, an der auch der Kuhstall lag. Das war ungewohnt: Normalerweise umfuhren die Bauersleute, die sich an diesem Spätsommertag 2008 in der Abendsonne und am milden Panorama wärmten, den Hof in der anderen Richtung. Ein kräftiger junger Mann kam um die Ecke und grüßte, sobald er die Bauersleute sah. Diese grüßten zurück, angespannt, was da den kommen möge. Offenbar passten der Tag, die Stunde, die Temperatur, das Tempo und die Frisur des Ankömmlings: Das alte Ehepaar war – stillschweigend und in Übereinstimmung – bereit, mit dem Eindringling zu reden.

Nach ein paar Artigkeiten, die man austauschte, um die Erziehung zu beweisen, nach ein paar Geschichtchen, die man austauschte, um die Weltsicht darzulegen, kam der junge Mann schnell zur Sache: „Ich heiße Peter Hofegger und bin ursprünglich in Wien geboren. Ich habe im Versicherungswesen gearbeitet, aber das will ich jetzt nicht mehr. Ich bin draufgekommen, dass mir manuelle, einfache Arbeit besser gefällt. Da bleibe ich ich und die Arbeit die Arbeit.“

Seinen genaueren Werdegang verschwieg er in Befürchtung, dass seine Vitae ihm bei seinen meisten Absichten im Wege stehen könne. „So bin ich hier im Theresienthal gelandet. Eigentlich wollte ich mir ja nur die abendliche Ansicht hier vom Hang aus ansehen. Die Stelle erschien mir von der Bundesstraße aus verführerisch ...“.

Sie plauderten über die Gegend, über die Entwicklung der Gegend. Der Gast war etwa so alt, wie Josef jetzt gewesen wäre. Er war stattlich, hatte ein einnehmendes Wesen. So wäre Josef jetzt auch gewesen. Der Gast verabschiedete sich. Er müsse noch ein Quartier suchen. Er solle doch wiederkommen, am Sonntag, mittags.

Er kam wieder. Er hatte einen winzigen Blumenstrauß mit für Rosina. Der Strauß war aber nur Verzierung für eine feste braune Wellpappschachtel, in der sich eine Gartenwerkzeuggarnitur befand. Peter, der bemerkt hatte, dass im Nutzgarten der Bäurin ein paar verrostete Mistschaufeln und Eisenbänder – offenbar als Werkzeuge – herumstanden, dieser Peter hoffte, etwas Passendes gefunden zu haben. Dem Bauern hatte er ein sogenanntes „Multitool“, eine Art Zange mit Schraubendrehern, Sägen, Dosenöffnern etc., mitgebracht.

Die beiden Beschenkten waren ein wenig ratlos, weil sie doch bislang klaglos gelebt hatten, bemerkten aber sehr wohl die guten Absichten, das Nachdenken des Schenkenden. Der wiederum wurde mit allem Essbaren beschenkt und gefüttert, was der Hof zu bieten hatte: Suppe, Mostkrustenbraten mit Knödeln und Kraut, warmen und kalten Mehlspeisen, Most, Schnaps. Dann ging man eine Runde spazieren auf dem Höhenkamm. Auf der einen Seite ein Blick ins Donautal, zu den Hängen des Mühlviertels, auf der anderen Seite die Voralpen, der Ötscher, die Ybbstaler Alpen, das Gesäuse, der Traunstein. Der Magen erholte sich, die Seele jubilierte, der beginnende Abendwind trug einen Duft von Heu und bereits eine winzigkalte Note.

Das Gespräch wurde vom Bauern zur Arbeit gedreht, zum Wohnen, und weil der junge Mann den beiden, Hans und Rosina, gleichermaßen sympathisch war, weil im großen Vierkanthof viele leere Räume gab, weil sie insgeheim und ein ganz klein wenig hofften, jemanden gewinnen zu können, dem sie den Hof übergeben könnten, boten sie dem Peter eine Wohnmöglichkeit an, so billig, dass dieser verschämt ablehnte, sich aber dann doch überreden ließ. Von den Hofnachfolgeüberlegungen hatte er keinerlei Ahnung. Und er hatte auch keine Ahnung, dass er irgendwie an Sohnes statt aufgenommen wurde.

Die beunruhigende Besorgnis der Bausersleute, als Peter eines Abends nicht auftauchte und auch nicht von sich hören ließ, war längst einer ergebenen, stillhaltenden Warten gewichen, als dann in einer späten Nacht der Wagen Peters neben dem Hof ausrollte, beim Anhalten ungewohnt ein wenig schepperte. Der junge Mann wurde ins Hus geholt, besorgt gemustert, an den Tisch und zum Essen und Trinken genötigt. Was den passiert sei?

Peter erzählte von seinem Unfall. Er erzählte, dass ihm das Bremsversagen komisch vorkomme. Er erzählte von Melanie, von ihrem Grab in St. Thomas. Er erzählte seine Geschichte. Nicht die ganze, nicht alles, was ihn bewegte. Bei einer Versicherung habe er gearbeitet, aber das sei nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Seine Ehe wäre gescheitert, nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hätte. Und so hätte er Arbeit gesucht, ungelernt wie er war, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wie sie es jetzt waren. So wäre er ins Theresienthal gekommen.

Das Reden viel ihm leichter, je mehr er erzählte, das Herz wurde ihm frei, er fühlte sich verstanden und angenommen. Die Bauersleute hingen an seinen Lippen und nahmen ihn mehr und mehr an. Eine Zeit lang sprachen sie noch leichte Worte oder gar nicht. Es war gut.

Als Peter dann zu Bett ging, erinnerte er sich an den Unfall, an das vorbeikommende Fahrzeug, und eine Welle unbestimmter Angst strömte über ihn hinweg. Er konnte seine Gedanken noch lange nicht beruhigen und schlief in dieser Nacht auch schlecht.

Der Bauer hatte auch ein eigenartiges Gefühl zu Peters Unfall. Er kannte sich nämlich auch mit Zweikreis-Bremssystemen aus. Er wusste, dass da etwas ganz eigenartig war. Es war wie beim Erkranken, beim Tod seines Sohnes. Damals war er ohnmächtig gewesen, getroffen worden, kraftlos, willenlos niedergestreckt worden zu einem Männlein, Menschlein. Er hatte gelernt. Jetzt wollte er kämpfen, auch wenn er noch nicht wusste, worum, wie, wo. Aber in den nächsten Tagen prüfte und putzte er seinen Willen, seine Jagdausrüstung und auch sonst allerlei Zeug und Türschlösser.

Die Bäurin bemerkte das, erzählte ihrem Johann ihre Sorgen, ihre Gedanken, und sie waren sich eins wie immer.