Pavel Babich kommt nach Linz
Da Niederösterreich und auch das ländliche Oberösterreich ziemlich landkatholisch sind, fand er erst in Linz wieder einen erfolgverheißenden Arbeitsbereich. Natürlich gibt es auch dort ein etabliertes Milieu, aber aus irgendeinem Grund geriet er unmittelbar in einen Verein, der einen Mitarbeiter mit Ausbildung und Berufserfahrung suchte. Es folgten unmittelbar ein paar unschöne Wochen voller nächtlicher Besuche, voller Beulen und Blut, aber sein neuer Chef erkannte rasch die Qualifikationen von Pavel und machte ihn zu einem Bereichsleiter-Stellvertreter mit Karriereaussichten: Das Geschäft konnte und sollte ja jetzt vergrößert werden. Pavels Aufgabe bestand darin, mit ein paar Soldaten, das waren meist angeheuerte alogische und bildungsferne Radaubrüder, auf den ungestörten Geschäftsgang und die Sicherheit der Bordsteinschwalben der Organisation zu achten.
Pavel meinte ja, von Frauen nichts zu halten: Sie begriffen nicht, worum es jeweils ging. Sie könnten nicht anpacken. Sie könnten nichts auf die Reihe bringen. Letztendlich seien sie alle Nutten, die sich halt Unterschiedliches unterschiedlich bezahlen ließen. Aber wahrscheinlich hatte er Angst vor Frauen. Er war grob, weil er sich Ihnen nicht gewachsen fühlte, bellte auf jeden winzigen Flirtversuch, weil er es nicht konnte, das Flirten, nicht einmal auf die primitive Art, und weil er dies wusste. In erster Linie lebte er seine Grobheit den Sexarbeiterinnen des Vereins gegenüber aus, was seine Kollegen und sein Chef aber als »strenge Hand« sahen und durchaus goutierten.
Nach einigen Jahren kam eine neue Mitarbeiterin, Melanie hieß sie, die sah ihn so seltsam an, dass er gar nichts sagen oder machen konnte. Sein Herz begann zu drücken. Das kannte er nicht.
Pavel und Melanie
Zwei Dinge trieben ihn an: Die Suche nach Sicherheit und die Suche nach Liebe. Das konnte man ihm nicht anmerken, auch auf den zweiten Blick nicht. Pavel Babich wirkte zornig, grob, machthungrig, brutal, unberechenbar, und er hätte nicht einmal gelacht, wenn man ihn konkret nach solchen Wünschen gefragt hätte.
In seiner Kindheit war er allein gelassen worden von seinen Eltern, beiden Eltern. Und andere Bezugspersonen gab es keine weiteren. Alles reichte ihm gerade zum Überleben, für den Körper, für die Seele. Sobald er konnte, streifte er herum, ein Zuhause zu finden und Liebe, aber es reichte immer nur aus, über den Tag zu kommen, vielleicht seine Lebensumstände ein wenig zu verbessern mit kleinen Diebstählen, mit »Mundraub«, wie es so leichthin heißt. Er bezog seine Abreibungen, aber er verstand es auch, seine Stellung zu festigen, sich durchzusetzen. Als seine Eltern merkten, dass er sie nimmer brauchte, nimmer wollte, sie ihm gegenüber den Kürzeren zu ziehen begannen, als auch die örtlichen Behörden darauf drängten, wurde Pavel daher in ein Heim verfrachtet, wo er rasant und perfekt lernte, was er bislang noch nicht gewusst und gekonnt hatte im interaktiven zwischenmenschlichen Sektor. Er war dort quasi ein Vorzugsschüler, wie er es in der anständigen Gesellschaft nie hatte sein können. Die für seine Stellung im Heim maßgebliche jugendliche Wildheit lag im Rahmen seiner Möglichkeiten, und er entwickelte sich auch im Rahmen seiner Möglichkeiten weiter, als er dann wieder ins Leben, auf die »freie Wildbahn« entlassen wurde. Es gab immer viele Schwächere, viele Ängstliche, aber auch den einen oder anderen Unbezwingbaren, auch mutige Charaktere, die er zwar schlagen, aber nicht beugen konnte. Die ließ er bald in Ruhe, um unangenehme Verwicklungen zu vermeiden.
Wo wäre da Platz für Sicherheit und Liebe?
Im Grunde seines Herzens wollte er nur ein sicheres Leben haben, für das er aber keine Maßstäbe kannte. Vertrauen, Freunde? Zweckbündnisse mit Kumpanen! So nahm er sich die Maßstäbe am propagierten »guten Leben«: viele schöne große teure Dinge. Und er schaffte und er raffte, es mussten gar nimmer die Dinge sein, es reichte das Geld. Er beschaffte sich das Geld mit Gewalt, er konnte es mit Gewalt wieder verlieren. Sein ganzer Habitus, sein ganzes »Gesellschaftsleben«, waren darauf ausgerichtet, stark zu erscheinen, stark zu sein, Macht zu haben.
Ein angespanntes, anstrengendes Leben, und er hätte sich doch so danach gesehnt, einfach in die Arme eines liebenden Wesens, einer liebenden Frau, einer liebenden Mutter zu fallen, so mächtig, dass sie ihn vor allem beschützen konnte, fraglos und unendlich liebevoll. So wusste er, sollte Liebe sein. So hatte er sie noch nie gefunden. Immer waren Fehler dabei gewesen, Grenzen, Mängel. Nur Lügnerinnen, Betrüger, Nutten, die Liebe nur ein Lockmittel, ein billiger, giftiger Köder. Er hatte rasch gelernt, darauf würde er nicht hereinfallen.
Er machte es selber genauso. Er lockte mit Liebe, er lockte mit dem Versprechen seiner Stärke, eines guten Lebens an seiner Seite. Er bekam meistens, was er wollte. Er hielt sie an der Kandare, seine Lieben. Er hielt sich selbst unter Kontrolle. Nur manchmal. Manchmal, da ließ er seinen Zorn. Er ließ ihn wachsen, er befeuerte ihn, er begann zu toben und zu wüten, bis alle ihn fürchteten. Er tobte über seine eigene Kontrolle, über seine Wahrnehmung, über jeden kausal noch irgendwie sinnvollen Zusammenhang hinaus. Er hatte den unberechenbaren Zorn zu seinem Markenzeichen gemacht, die unbegrenzte zornige Grausamkeit, sein Wesen, seine Entschuldigung. Eine Weitere gab es nicht, auch keine Versöhnungs- oder Wiedergutmachungsangebote.
Der zornige Pavel. So war er dorthin gekommen, wo er jetzt war in der Halbwelt, aber auch nicht weiter. Seine Grenzen hatte er mit dem Zorn selber gebaut. Aber seine Capos setzten ihn gern als zornigen Rädelsführer ein, drohten mit seinem Zorn und seiner Grausamkeit. So hatte er sein sicheres Aus- und Einkommen und lebte ein doch irgendwie geregeltes Leben.
Menschen können sich ändern.
Bei Pavel war es so, wie wenn ein Staudamm gebrochen wäre. Als er Melanie das erste Mal sah, hatte er Angst vor ihr: Diese Frau war stärker als er, so fühlte er es, und sie konnte ihn vollkommen durchschauen. Und so benahm er sich zurückhaltend, höflich, war - das erstaunte ihn selber - ruhig abwartend, was sie denn von ihm wolle. Melanie wollte nichts Bestimmtes.
Sie vereinbarten einen Modus Operandi, was sie täte, was er für sie zu tun habe, und Pavel war froh, dass sich dies alles so problemlos regeln lies. Er war ein anderer geworden, plötzlich, er fühlte sich anders, und nicht nur im Umgang mit Melanie als Frau. Nein, der zornige Pavel war zwar in anderen Bereichen imagepflegend noch der zornige Pavel, aber er sah sich dabei wie von außen zu, fand es ein wenig peinlich, musste ich sehr anstrengen, sein Rollenbild aufrechtzuerhalten.
Erst nach zwei Wochen war er so weit, Melanie zu fragen, ob er sie nicht zum Essen einladen dürfe. Er, Pavel, fragen, um Erlaubnis! Fragen, statt sich einfach zu nehmen. Sie sagte ja, und es musste nicht sofort sein. Er wartete bis zum vereinbarten Termin. Er war aufgeregt, er putzte sich heraus. Sie gingen Essen. Er versuchte, sich zu benehmen. Anschließend gingen sie noch in eine Nachtbar, dann brachte er sie sie in ihr Quartier. Er fuhr sie mit dem Auto, er öffnete ihr die Tür, er sah ihr nach. Das wäre bislang unvorstellbar gewesen, das hätte auch niemand von Pavel vermutet.
Er umwarb sie, und nach einiger Zeit begannen sie ein Verhältnis, eine Beziehung. Natürlich ist alles zwischen Menschen eine Beziehung, aber Pavel hatte keinerlei Maßstäbe für partnerschaftliche Beziehungen. Bislang hatte er sich immer genommen, was er wollte, wenn es sein musste auch mit Gewalt. Mit Melanie war alles anders. Er fühlte eine unbekannte, vielleicht auch nur vergessene Sehnsucht in sich, eine seltsame Zärtlichkeit. Er wollte von dieser Frau angenommen, geliebt werden, er wollte sich - er selber hätte dies nie so formuliert - hingeben.
Pavel besorgte eine luxuriöse Wohnung. Es schmerzte ihn, wenn Melanie anschaffen ging, doch die Kraft, dies zu ändern, hatte auch er nicht. Er wollte nicht daran denken, er wollte nur die Zeit mit der Frau, er wollte nur das vollkommene Liebesglück. Aber seine Wunschvorstellungen waren doch ein wenig überzogen, und so gab es manchmal kleine Risse, Sprünge, Brüche in der Harmonie. Seine Soldaten spürten das eher als er selber. Es waren die Tage, an denen er seine Geschäfte mit besonderer Grausamkeit erledigte. Ihm selber machte das aber auch wendig Spaß, sein Herz war anderswo.