Andrea macht sich Sorgen

»Jeder spinnt auf seine Weise, der eine laut, der and´re leise.«

Es hatte schon gedauert, bis Andrea diesen Spruch mit seinem vollen Sinnumfang gelten hatte lassen. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie die daraus folgenden Konsequenzen - umfassenden grundsätzlichen Respekt und angemessene Toleranz - zu leben begonnen hatte. Und sie hätte vieles von dem, was hier über sie berichtet wird, sicher nicht so formuliert.

Andrea war ins Leben gestürmt, voller Zuversicht, Freude und Frohsinn. Viele der kleinen Blessuren, die sie sich dabei geholt hatte, die ihr nur ein wenig lästig waren, hätten sich Andere als ernsthafte Wunden zu Herzen genommen. Andrea spürte solche Stiche sehr wohl, war aber der Meinung, man dürfte nicht alles so ernst nehmen. Ernst genommen hatte sie dann doch etwas: Die Liebe eines Mannes. Nach einer bauerntochterstandesgemäßen Hochzeit änderte sich rasch alles. Sie gingen nicht mehr aufeinander zu, er ging nicht auf diese Art. Sie gingen nicht gemeinsame Wege. Er ging nicht auf diese Art. Er ging seine Wege, und die waren nicht unaufwendig. Und so kam es zum Streit, zur Trennung, zur Scheidung, aus Andreas jetziger Sicht mit vielen unnotwendigen unschönen Episoden.

Die Jahre danach hatte sie den einen oder anderen Freund gehabt. Aber entweder war sie sehr viel anspruchsvoller geworden, oder es gibt tatsächlich wenige brauchbare Männer in fortgeschrittenerem Alter: Eine dauerhafte Partnerschaft mit Zukunftsaussichten war da nie dabei. Und deswegen gab es auch keine Kinder.

Und dann passiert da noch etwas mit fortschreitendem Alter: Die Welt wird kleiner, ihre Grenzen werden sichtbar. Das hieß jetzt - für Andrea - nicht, dass da etwas weniger würde, dass da Ängste aufgetreten wären, gar eine Torschlusspanik oder midlife crisis oder wie immer man solche seelischen Nöte bezeichnen möchte. Sie war eher der knochentrocken realistische Typus mit einer guten Portion Humor, nein, nicht Zynismus mit lachendem Mund, sondern Fröhlichkeit. Das bisschen Kummer, das sie manchmal spürte, das werkelte sie dann und wann in den Hintergrund. Zunehmend begann sie aber auch zu suchen. Das Ziel ihrer Suche war der Sinn ihres Daseins.

Und diese Sinnfragen beschäftigten sie auch, als sie zum ersten Mal Peter sah, der sie über eine Frau fragte, über ein eventuelles Kind. Der Mann mochte schon einige Jahre älter sein als sie, einige Zentimeter größer als sie, um einiges sportlicher als sie. Irgendwie erschien er ihr sehr zart und verletzlich, aufmerksam. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so derb und grölend auf sie losgehen würde wie die meisten Hiesigen, die sich ja oft benahmen, als hätten sie mit ihren Getränken auch die Kellnerin dazugekauft. Dieser Peter sah sie mit großen Augen an, es war ihr, als versuchte er, ganz in sie hineinzusehen, aber er hätte sich wohl nie herausgenommen, sie, Andrea, als Person, als Frau, anzusprechen. Sie Sie kannte sich selbst so nicht, als sie ihn ansprach. Und dann versuchte sie, sich zu beruhigen: Es kann ja nichts passieren, es ist ja ganz unverbindlich. Es muss ja nichts passieren. Aber sie musste sich doch eingestehen, dass sie wild über diesen Peter nachdachte.

Ein wenig geheimnisvoll war er ihr erschienen in seiner ganzen Art, und respektvoll. Interessant war er gewesen, und er hatte ihr schon auch gefallen: Sein Aussehen, seine Art, sich zu kleiden, zu bewegen. Das etwas Schüchterne, das Linkische an ihm. Er hatte sie so respektvoll behandelt, geachtet, von gleich zu gleich.

Und jetzt war diese Geschichte in Grein passiert. Die ganze abgeschlossene, heimelige Welt, in der sie sich mit Peter zu finden begonnen hatte, in der sie herzerwärmt aufgetaut war, die gab es ja gar nicht, die war nur ihr Wunsch gewesen. Die Welt, in der Peter sich herumtrieb - Andrea war ätzend geworden -, die war eine ganz andere, Peter war ein ganz anderer. Wieder einmal war sie Opfer ihrer Gefühle, ihrer Naivität, ihres Willens, die Welt als gut zu sehen, geworden. Nicht sehr erfreulich, enttäuschend, deprimierend. Aber glücklicherweise war alles rechtzeitig herausgekommen, bevor sie größeren Schaden hätte nehmen können.

Andrea begann sich zu beruhigen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie sehr ihr Herz gepocht hatte, wie wild sie geatmet hatte, wie wirr und gebrochen ihre Gedankengänge gewesen waren. Ruhiger werdend ordnete sie: Peter war vielleicht ein Verbrecher? Vielleicht ein ehemaliger Verbrecher? Ein Verbrecher auf der Flucht vor einem Konkurrenten? Ein Erpressungsopfer? Ein Kronzeuge, dessen Tarnung aufgeflogen war? Sie konnte diese Überschriften einfach nicht mit passenden Bildern und Geschichten füllen. Sie konnte aber erkennen, dass die Sachverhalte möglicherweise nicht so klar und eindeutig waren und musste sich eingestehen, dass sie begonnen hatte Schuld zu relativieren.

Ein neuer Aspekt begann sich dabei zu ergeben: Peter schien ihr nicht zu vertrauen, hatte ihr nichts mitgeteilt. Alles hatte sie ihm immer aus der Nase ziehen müssen. Ein Hauch von Zorn. Vielleicht war sie aber auch nur gekränkt in ihrer Eitelkeit, hatte den Durst ihrer Kontrollsucht nicht stillen können.

Bei all ihrem geradlinigen, superpraktischen Denken hatte Andrea doch gelernt, lernen müssen, ihr eigenes Denken und Handeln auch zu hinterfragen. Und als sie da ihre Gedanken feiner ordnete, da musste sie sich eingestehen, dass Peter ihr nichts versprochen hatte, sie nie bedrängt hatte, dass seine Zurückhaltung auch andere Beweggründe als die Geheimhaltung haben hätte können.

Es blieb der etwas schüchterne, respektvolle, feinsinnige, freundliche Peter, der Mann mit einem vielleicht drückendem, gefährlichen Geheimnis.