Alles in Ordnung bringen
Das Kurhaus in Bad Zell liegt an einem Hang. Alle Zimmer haben einen kleinen Balkon, der sich nach Westen hin öffnet, sodass man dort den Sonnenuntergang lang und mild genießen kann, sofern die Sonne scheint und die Außentemperaturen schon erträglich sind.
Pavel war im zweiten Stock untergebracht worden, inmitten anderer Zimmer mit anderen Patientinnen und „Kurgästen“, aber Anschluss fand er nicht. Eigentlich suchte er auch keinen Anschluss. In seiner Welt verachtete er sogenannte „Normalos“, Menschen mit einem anderen Weltbild als dem seinen. Nun sagt man Kuranstalten ja nach, dass solche Einrichtungen ein wunderbares Substrat für menschliche Dramen sein können, dass sich hier leicht sogenannte „Kurschatten“ fänden. Thomas Mann lässt auf seinem „Zauberberg“ ganze Leben, Lieben, Tode und Philosophien in den Rhythmus einer solchen Anstalt wechseln, sein und vergehen.
Irgendetwas davon spürte auch Pavel, aber er hatte nicht den Witz und Mut, den Apfel der Verführung aufzunehmen. Die Frauen hier waren nicht so, wie er sie kannte, nicht so wie die, mit denen er umzugehen gelernt hatte. Sie warfen ihm keine verschwörerischen Blicke zu, sie waren nicht so offensichtlich einfältig und eitel, sie waren nicht so verschüchtert und anlehnungsbedürftig, sie waren nicht so jung und grell wie diejenigen, die er üblicherweise in Besitz nahm. Bei den wenigen Worten, die er manchmal wechselte, merkte er schnell, dass er hier auf eine andere Art von Frauen traf, auf lebenserfahrene, realistische Frauen, die allesamt sehr genau zu wissen schienen, was sie wollten, und die von oder mit Pavel offenbar nichts wollten.
Eine Begegnung betraf und traf ihn aber doch besonders. Im Heim war auch ein etwas älterer, sehr distinguierter und dabei doch fast dandyhaft modischer Herr untergebracht, der ein besonderes Interesse an und für Pavel erkennen ließ. Dieser Mann, ein mittlerweile pensionierter Billeteur in einem großen Wiener Theater, hielt sich selber für feinsinnig und kunstbeflissen, wobei seine Gaben ihn nicht weiter geführt hatten als bis zu umfassenden Kenntnissen über das Repertoire seines Hauses samt allem möglichen Tratsch über eben die Ensembles und irgendwie besondere Vorfälle in dieser Spielstätte – und eben zur Pflege seiner Garderobe. Geheiratet hatte der Mann – Gerald mit Vornamen, den er gerne zu „Scherald“ versprachfehlerte. Tatsächlich lag die große Begabung Geralds aber nicht in seiner Feinsinnigkeit, auch nicht im Leben seines ereignis- und entscheidungsfreien Erdendaseins, sondern in der Fähigkeit, das Leiden anderer tief mitfühlen und echten Trost spenden zu können. Als er deswegen Pavels zertrümmerte, verbundene, augenscheinlich sehr schmerzende Hände wahrnahm, suchte er sofort eine passende Gelegenheit, diesem sein Mitgefühl auszudrücken, seine Hilfe anzubieten.
Pavel konnte mit dem Dandy im ersten Augenblick nichts anfangen, aber er dachte sich auch nicht viel dabei. Als ihm „Scherald“ aber wiederholt umschwänzelte, kam ihm der Gedanke, dass dieser Mann vielleicht homosexuell sein und ihn beflirte. Pavel war keiner, der einen solchen Gedanken in sich ruhen lässt, um ihn zu begreifen. Er war auch keiner, der über Homosexualität einen Gedanken zu verschwenden bereit gewesen wäre – über Bilder des rein Körperlichen hinaus. Die Sexualität zwischen Männern, die kannte er. Er war ja bereits ein paar Mal im Strafvollzug gewesen. Aber Pavel kannte nur die brutale Art, die Hassficks, die Demütigungs- und Unterwerfungsficks. Er verachtete Schwule, das waren die mit den Gefühlen, ohne Gründe dafür zu brauchen oder suchen, wie er überhaupt alle Menschen mit Gefühlen verachtete, ausgenommen vielleicht Zorn, Hass, Verachtung u d Kaltblütigkeit, die er auch für ein Gefühl hielt.
Jedenfalls hatte er eine Heidenangst vor irgendwelchen Fortentwicklungen der Beziehung zu „Scherald“. Davor, dass er gesehen werden könnte. In Hinkunft flüchtete, wenn ihm der Schnösel in den Weg zu treten drohte. Was sollte er sonst tun, er hatte ja kein Personal um sich.
Hin und wieder bekam er aber doch Besuch aus Linz, ein Bote, ein Verbindungsmann. Gerald war da aber nie ein Thema. Pavel sich lieber herumfahren im oberösterreichischen Mühlviertel, zur Donau hin, zum Strudengau, ins Waldviertel hinüber Während der Fahrten hätten sie über alles sprechen können, er und die Verbindungsleute, aber Pavel war wortkarg. Er sah nur in die Gegend, Wald, Hügel, Wiesen, Wald, in der man leicht die Orientierung verlieren konnte.
Sein Chef hatte ihn in Bad Zell untergebracht. Eigentlich war er auf Krankenkassenkosten hier, denn wie alle „höheren“ Mitarbeiter seiner „Firma“ war Pavel angestellt, zu einem geringen nominellen Lohn zwar nur, aber seine Einkünfte hatte er ja anderswo her. Das Beschäftigungsverhältnis bedeutete aber soziale Absicherung. Die Krankenkasse bezahlte den Rehabilitationsaufenthalt, sein Chef engagierte einen Vertrauensarzt dazu, der die eine und andere Therapie, kleine Nachoperation durchführte. Dass diese Heilbehandlungen Erfolge zeitigten, können wir nur annehmen. Aus Pavels Sicht verbesserte sich nichts. Zumindest nichts im Hinblick auf die Gebrauchsfähigkeit seiner Hände. Aber die fortlaufend häufigen Besuche, die Stimmung, die er dabei wahrzunehmen glaubte, ließen ihn darauf hoffen, nicht fallen gelassen worden zu sein, ließen ihn darauf hoffen, dass es Pläne gäbe für seine Zukunft. Darüber hinaus lernte er durch die häufigen Spazierfahrten die Gegend doch etwas kennen. Durch Pavels Augen sieht man aber nicht die Schönheit der Natur, nicht, wie der Mensch diese Gegend besiedelt und kultiviert hat. Man sieht nicht die trutzigen Burgen, nicht die wilden Felsenreste der ehemals hochgebirgigen böhmischen Platte, die überall unvermittelt in der Landschaft hervortauchen.
Pavel sah die Menschen, ihre Ängste, ihre Angreifbarkeit, ihre Korrumpierbarkeit. Bei jedem Gasthausbesuch ging er Strategien für eine allfällige Schutzgelderpressung durch, bei jeder Frau am Straßenrand gingen ihm Gedanken durch den Kopf, wie er sie zur Prostitution bringen könnte, wie viel sie wohl einbringen würde. Ein seltsamer Atlas, in den er da Eintragungen zur Gegend machte: Kaum jemand würde ihn so sehen oder gar verstehen wollen.
Als Pavel daher Nachricht bekam, dass seine Mitarbeiter dem Peter einen Streich gespielt hatten, konnte er sich sofort vorstellen, wo ungefähr der aus dem „Streich“ resultierende Unfall stattgefunden haben musste.
Zuallererst beschimpfte er seine Mitarbeiter wegen ihres Dilettantismus, wegen ihrer hirnlosen Selbstständigkeit, aber er hätte sie wohl auf jeden Fall kritisiert und gedemütigt. Das gehört zum Erhalt des Machtgefüges.
Und dann ordnete er eine durchgehende Überwachung von Bad Kreuzen an. Beim geringsten Verdacht, dass „er“ (als Peter Hofegger kannte er ihn ja nicht) auftauchen würde, sollte man ihn umgehend verständigen, zu jeder Tag und Nachtzeit.
Man gewöhnt sich an viele Gegebenheiten, auch wenn diese mit Einschränkungen, Schmerz, Angst, Furcht oder Freude verbunden sind. Ein latentes Gefühl der Bedrohung begleitete Peter, der fortan vorsichtig und umsichtig aufpasste, was in seinem Umfeld vorging. Solche Verhaltensweisen werden – gut und auch schlecht – schnell zur Routine. Die Angst zieht sich zurück, Interessen werden abgewogen, vor allem aber will der Alltag wieder seinen angestammten Platz einnehmen.
Zu Peters Interessen zählten die Suche nach seinem Kind, ein Wiedersehen mit Andrea, also jedenfalls eine Reise in den Strudengau. Als diese Absicht ihm – mit allen ihren Konsequenzen – unumgänglich geworden war, überlief ihn ein leichter Schauder: ein Grausen, dorthin zurückzukehren, wo man ihm übel mitzuspielen versucht hatte, mit dem er leben konnte. Aber er verspürte auch eine Herzensangst, Andrea gegenüberzutreten. Wie sollte er sich erklären? Wollte er überhaupt etwas von Andrea? Sie war ja so ganz anders, als er sich eine erstrebenswerte Frau immer vorgestellt hatte.
Seine Gedanken schweiften: Seine Ehefrau, die war so gewesen, wie er eine Frau gewollt hatte. Aber was war von ihr geblieben? Nichts. Verraten hatte er sich gefühlt bei der Scheidung, ausgenutzt, fallengelassen. Aber jetzt war da gar nichts mehr. Er kannte noch ihren Haarschnitt, ihren Bekleidungsstil, manche Gesten, aber er fühlte nichts mehr, nichts Schönes, nichts Schmerzliches, nichts.
Melanie: Da war beinahe schmerzhaftes Begehren gewesen. Ihr Name füllte noch immer sein Leben, der Gedanke war so stark, dass bislang keine Fragen dazu Platz hatten greifen können. Er suchte erstmals, und er wusste dass er erstmals suchte, er wusste, dass er ein Bild zerstören würde, und er suchte noch ein wenig, und es war schwierig, etwas zu finden, außer einigen dunklen, warmen Momenten, die sich eingebrannt hatten. Daneben wollte er aber wissen, dass Melanie das Wichtigste für ihn gewesen war, und er nahm sich vor, sich Zeit zu nehmen, einen Abend, einen T<g zu reservieren, störungsfrei, angenehm, um weiter nach Melanie zu suchen, sie wieder zu finden. Wahrscheinlich würde er auch den Charakter seines Kindes finden, grundlegende Charakterzüge, liebenswerte, wenn er Melanie rekonstruiert hätte. Was für ein übles Wort: „Rekonstruktion“.
Andrea! Wegen Andrea hatte er nachzudenken begonnen, nein – wegen seines zwiespältigen Zugangs zu Andrea. War es nicht verrückt, er nicht anmaßend? Er überlegte sich das Gefühl einer eventuellen Beziehung zu Andrea. Er allein, ohne sie zu fragen, ohne sie wirklich zu kennen. Andrea war jedenfalls nicht sein Typ, wie man so sagt: Nicht so elegant, nicht so verhalten, nicht so rätselhaft, schillernd, dunkel, wie er sich das immer vorgestellt hatte. Soweit er das bislang gesehen hatte, war sie eher direkt, praktisch, unromantisch. Andrea lachte gern. Das war gut, das war erleichternd. Und er brauchte sich ja vor nichts zu fürchten, er war ein freier Mensch, stand niemandem im Wort, könnte jederzeit gehen – oder bleiben.
Andrea war jemand, der dich unerwartet, unvermittelt bei der Hand nimmt und lachend in einen Waggon der Hochschaubahn zieht. Sie weiß, wie das geht, und wenn sie es nicht weiß, dann ist sie willens und voller Vertrauen, das mit Dir zu probieren. Auch gut: Schneller, freier, einfacher.
Gut und schlecht. Gut oder schlecht? Peter wusste nicht, wie er seine bisherigen Beziehungen, sein ganzes bisheriges Leben bewerten hätte können. Er wusste es auch deshalb nicht, weil er sich gar nicht so genau erinnern konnte. War es gut gewesen, viel Geld zu verdienen – genauer gesagt „abzusammeln“? Er hatte einigen materiellen Luxus eingesammelt, aber insgesamt war er wohl nicht unglücklicher oder glücklicher gewesen als jetzt. Der Strafvollzug: Eine andere Erfahrung, teilweise eine harte, schmerzhafte. Aber auch dort hatte er viel gelernt und bislang unbekannte Teile von sich selbst – oder konnte man dies „Freiheiten“ nennen - gefunden. Die Zeit mit Melanie? Sein jetziges Dasein? Er hätte nichts davon als gut oder schlecht kategorisieren können. Es gab nur Erinnerungen über das Lebensgefühl in diesen Zeiten, in Augenblicken dieser Zeiten. Und da ging es nicht um gut oder schlecht, sondern um Gefühle, um Glück, um Schmerz, um Trauer, um Angst, um Hass.
Gab es so etwas wie gut oder schlecht überhaupt, in einem moralischen Sinn? Diese „Moral“ hat wahrscheinlich nur ein gedeihliches soziales Zusammenleben zum Ziel, einen Fortbestand der Gesellschaft. Gut und Böse (als andere, wildere Bezeichnung von „Schlecht“) sind ja auch keine universellen Wertbegriffe. Was für den einen gut sein mag, ist für den anderen böse. Und angesichts möglicher Seitenwechsel in der Betrachtungsweise bleibt nur übrig, dass gut und böse zwei Maxima in Wertekategorien sind, dass die Werte sich laufend ändern, laufend auch anders kommentiert und interpretiert werden.
Im Bett dann, beim Einschlafen, zerfloss Peter im Gedanken, der eher ein Gefühl war: „Ich fühl mich gut, wenn ich Gutes tue.“ Er schlief tief fest, gut, erwachte gestärkt und mit hohem Mut, und es war ein wunderschöner Tag. So fuhr Peter, gut vierzehn Tage waren seit seinem „Unfall“ vergangen, wieder einmal in den Strudengau, nach Bad Kreuzen, zum Kirchenwirt hinauf. Es war nicht einfach „nur so“, weil ihm auch ein Treffen mit Andrea vorschwebte. Er machte sich zurecht, sportlich-schnittig, und hätte wohl am liebsten über sich selber gelächelt. Je länger er aber fuhr, desto mehr drückte ihn sein Gewissen, die Kellnerin über die letzten Tage so versetzt zu haben
Es war bereits stockfinster, nahe der Wintersonnenwende, kalt und windig. Er merkte sich die Position der Reifenventile und kickte mit dem Fuß etwas Rollsplitt, der an den Rändern der trockenenen Straße und des Parkplatzes lag, vor und hinter sein Auto, um zu bemerken,falls sich jemand an dem Fahrzeug zu schaffen machte. Dann flüchtete er in die Gaststube, warf von der Tür her einen Blick in den wenig besetzten Rum, und war ein wenig enttäuscht, dass der Wirt gerade eine Bestellung annahm, Andrea augenscheinlich nicht da war. Erleichtert war er, dass in der Gaststube nur ein paar Einheimische, die er vom Sehen zu kennen glaubte, anwesend waren hinter dem Tresen stand. Peter suchte sich einen Platz am Fenster, von dem aus er sein Fahrzeug sehen konnte. Noch während er sich am Tisch einrichtete, wurde er vom Wirt eher brummelig begrüßt. Offenbar nahm der ihm übel, dass er so lang nichts von sich hören hatte lassen, nein, dass er Andrea so lange alleine stehen hatte lassen. Peter würde eine Erklärung abgeben müssen. „Ich hatte einen Unfall, als ich das letzte Mal von Euch heimgefahren bin:“
Das Brummen des Wirtes wich einem besorgten Interesse. Nein, ihm sei nichts passiert, nur das Auto hätte Schaden erlitten, keinen argen, aber er hätte es reparieren müssen.
Warum er sich nicht gemeldet habe?