Wenn das Theresienthal erzählen könnte ...

Einig ist sich die Wissenschaft nicht fachgebietsübergreifend, was Leben ist. Einig ist man sich nur, dass sich im Leben etwas verändert, dass Leben in Raum und Zeit erfolgt.

Man kann das Leben über materielle Funktionen, Austausch mit der Umgebung, definieren, aber diesen Bogen kann man sehr weit spannen, bis zu Phänomenen, die die meisten von uns nicht als Leben verstehen würden. Ähnliches gilt auch für die Reproduktionsfähigkeit. Wenn man den Bogen nur weit genug spannt, findet man viele Wege der Reproduktion - ohne und mit Helfershelfern und Katalysatoren. Oder man setzt die Komplexität eines Systems als Maßstab für Leben an. Dann würde man dem Wetter, der Erde, der ganzen Welt Leben zuordnen können. Warum nicht. Die Naturreligionen haben es so gehalten, was den Menschen eine gewisse Ehrfurcht und Respekt vor der Welt abverlangt hat. Den haben wir derzeit kräftig verdrängt.

Wir halten Leben ja - gefühlsmäßig - in erster Linie für das, was wir aus unserer Innensicht wahrnehmen: Ein kleines Ich, das wir gern auch als Seele verstehen. Und so untersuchen wir unsere Welt, kategorisieren sie, und fressen sie auf - oder wir halten uns zurück und lutschen nur ein wenig an den weichen Rändern.

Aber stellt Euch vor, wie es wäre, wenn alles um uns herum tatsächlich so beseelt wäre, wie wir von uns glauben. Dann könnte eine Gegend - übersetzt - in etwa folgendes von sich erzählen:

Eigentümlich: Wenn ich schon einmal in Menschensprache denke - meistens stelle ich mir eher Bilder oder Filmsequenzen vor - dann denke ich in gewählter Ausdrucksweise, wie ich sie aus dem Stegreif wahrscheinlich gar nicht sprechen könnte. Wenn Lebewesen in meinen Gedankenfilmen sprechen, dann können und machen sie das in ihrer Kommunikationsform, schnurrend, knurrend, schwanzwedelnd, gestikulierend und sprechend, aber kaum in Hochsprache, manchmal in ihrem tiefsten Dialekt, manchmal sogar unverständlich. Aber ich weiß immer, was sie meinen.

Wenn ich meine Gedanken und Geschichten erzähle - mir selber oder gern auch anderen, dann mache ich das immer in Standardsprache. Ich weiß aber gar nicht, warum; vielleicht geht es nur darum, das meine dazu getan zu haben, verstanden zu werden. Nur das sprachlich Verständliche kann erfasst werden. Nur das Erfassbare kann pragmatisch verstanden werden. Nur das semantisch und in Vorstellungswelten passende Verständliche wird gelesen.

Ist das so?

Ich habe ja schon viele Geschichten erlebt über Jahrmillionen. Ich bin ein Teil von Terra, Gaia, der Erde, wie immer ihr uns nennen wollt. Die einen haben uns erkannt als Lebensraum und Leben, andere wiederum halten uns für das, was ihr einen Selbstbedienungsladen nennt, für noch geringwerter: Sie nehmen einfach, auf unsere Kosten, auf Kosten aller anderen. Für mich war unsere große Mutter Gaia immer da, ist da, eine ruhige, stille Mutter, die nicht zürnt wegen der Dinge, die geschehen. Eine weise, gelassene Mutter. Auch ich werde über die Zeiten gelassener. Seit den Urzeiten, in denen mich die Stöße der Erdkrusten aufgefaltet, Gletscher abgeschürft, Flussmäander ausgegraben haben, in den steinigen Zeiten, unter dunklen Wäldern, einmal heißfeucht, das andere Mal frostkalt. Vielerlei Leben habe ich entstehen und vergehen sehen, wie es wuchs, wucherte, kreuchte und fleuchte in meinen Gegenden, sich gegenseitig verschlang, zerriss, verdaute ein wildes Gewoge, das Leben heißt. Jedem Ende folgte ein neuer Anfang, eine andere Aufstellung des Spiels. Mitgefühl habe ich gelernt im Zusehen, wie Einzelne, ganze Arten um ihren Fortbestand fürchteten, beim Erkennen, dass das Ende von Leben voller Schmerz und Verzweiflung sein kann. Aber die Anfänge sind voller Freude und Hoffnung.

Im Augenblick ist alles ein wenig anders: Die Menschen kamen: Klein und schwach als einzelne, aber sie verstanden, miteinander stark zu sein. Und sie waren schlau. Sie konnten sich berichten, ihre Erfahrungen teilen, weitergeben. Sie lernten rasch. Sie kultivierten Pflanzen, sie zähmten Tiere, sie schufen sich Platz und Schutz gegen Wetter und Gefahren. Wie alle Lebewesen kämpften sie um Reviere, als eine der gewalttätigen Arten. Sie schufen und schaffen aber auch Dinge, die die anderen nicht zustande brachten, von denen ich glaube - ich weiß es nicht -, dass sie zum unmittelbaren Überleben und zur Reproduktion nicht notwendig sind. Sie nennen das dann Musik oder Philosophie. Eine ganze Reihe solcher Dinge gibt es, und die haben nicht wenig Anteil an ihrem Leben und ihren Geschäften miteinander. Eines dieser Beschäftigungsgebiete heißt Mathematik, und diese Mathematik ist fast allgegenwärtig. Ich kann sie ja fast nachvollziehen, wenn ich zusehe, wie der Flusspegel ansteigt, weil es geregnet hat, aber dann gibt es wiederum Ansätze, die ich nicht nachvollziehen kann: Wie sie zum Beispiel die Mathematik dafür verwenden, um zu bestimmen, was wahr und was falsch ist. Ich habe durch meine Erfahrungen gelernt, dass Fragen, die man so einfach beantworten kann, wahrscheinlich nicht die vollständigen Fragen sind.

Tja, diese Menschen, sie verändern uns schon sehr rasch und wild. Es soll so eine umtriebige Art schon einmal gegeben haben, zu Zeiten, in denen es mich als Struktur noch nicht gab. Damals erzeugten Lebewesen, ganz einfache Strukturen, Sauerstoff, mit dem sie sich selbst zu verbrennen begannen. Sie erzeugten ihren eigenen Tod in der Zeit, weil sie der oxidierenden Wirkung nicht mehr auf Dauer widerstehen konnten. Und sie veränderten die Welt so, dass sie vollkommen eisig wurde. Erst vor etwa tausend mal tausend mal tausend Sonnenumkreisungen wurde dann der Sauerstoff in der Luft eine der Grundlagen dafür, dass sich vielzelliges organisches Leben entwickeln konnte. Ihr seht, wie ich gelernt habe: Mathematische Multiplikation, und dass es keinen Anfang ohne Ende und kein Ende ohne neuen Anfang gibt, auch wenn man für eine solche Betrachtung eventuell einen Schritt weg vom unmittelbaren Geschehen gehen muss.

Die Menschen, sie sind so schnelllebig. Ich weiß ja nicht, was sie eigentlich wollen, aber es muss mehr sein als Leben, Reproduktion, Philosophie, Musik und Mathematik. Ich weiß nicht, was sie antreibt. Aber ich beobachte sie, mit Mitgefühl.

Lassen sie mich erzählen, was mich dazu in Erinnerung geblieben ist, was mich besonders bewegt hat, was mich beschäftigt.

Pardon! Ich habe mich bislang nicht vorgestellt! Ich bin das Theresienthal. Ich bin Heimat, wie es viele Menschen nennen würden, aber wenn sie mich suchen, dann werden Sie mich so nicht finden, nur in ihrem Herzen. Und nur mit dem Herzen können sie auch die Geschichten verstehen, die ich Ihnen erzählen möchte.